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und das verleitete mich oft genug während des Vortrags einzuschlafen. Josske Leubmann (Loven) war unser Lehrer für jüdische Gegenstände. Er kam aus einer religiösen Familie in Rumänien und hatte eine religiöse Erziehung genossen, bevor er zum Haschomer Hazair kam. Er hat uns nicht nur Hebräisch beigebracht, sondern auch die Liebe zu dieser Sprache und alten Kultur vermittelt. Josske, wie wir ihn nannten, hielt vor uns auch Vorträge über die moderne jüdische Geschichte, mit der Französischen Revolution beginnend. Zionismus und Antisemitismus In Europa wird der Zionismus oft auf eine Reaktion auf den Antisemitismus reduziert. Allerdings ist er nur in diesem Zusammenhang zu begreifen. Viele Juden sahen im Zionismus die richtige Antwort auf den immer stärker werdenden Antisemitismus. Bis zu ihrer Emanzipation — die 1793 in Frankreich begann — lebten die Juden in geschlossenen ethnisch-religiösen Einheiten. Die Revolution postulierte: Dem Juden als Einzelnen alles, den Juden als Nation nichts. Im christlichen Europa war die Religion das Hindernis auf dem Weg zur Gleichberechtigung, in der französischen Republik mußten die Juden sich als Franzosen bekennen, ihre Religion konnten sie zwar behalten, aber es wurde ihr Aufgehen in der Mehrheitsbevölkerung erwartet. Religiösen Antisemitismus, der zu schlimmen Pogromen und Vertreibungen führte, gab es natürlich auch schon im Mittelalter, aber die Juden lebten im Ghetto und hatten oft wenig Kontakt mit der nichtjüdischen Umwelt. Der Emanzipation der Juden folgte der moderne Antisemitismus, der nicht nur religiös, sondern auch rassistisch war. Die Juden, die nicht mehr in der jüdischen Gemeinschaft lebten und glaubten gleiche Rechte beanspruchen zu können, waren gegen diese Form des Antisemitismus machtlos. Manche waren der Meinung, sich durch Taufe entziehen zu können, andere hofften auf die aufkommende Arbeiterbewegung. Wir lernten im Kibbuz eine jüdische Geschichte, die wenig mit dem Antisemitismus zu tun hatte. Wir lernten über die durchaus reiche moderne hebräische Literatur, die mit der Haskala, der jüdischen Aufklärung, begann. Das Judentum wurde uns als eine Bereicherung der Weltkultur nahegebracht, als ein Wert an und für sich. Es ist einfach lächerlich, wenn einige Linke ausgerechnet nach dem Holocaust in Österreich den Zionismus mit der Begründung schlecht machen, dieser hätte die jüdischen Arbeiter vom Klassenkampf abgehalten. Man weiß ja, mit welcher Begeisterung gerade große Teile der österreichischen Arbeiterschaft den „Anschluß“, der mit einer beispiellosen Welle antisemitischer Ausschreitungen einherging, begrüßt haben. Linke jüdische und nichtjüdische Bürgersöhne und Töchter glauben im Namen des „Internationalismus“, ausgerechnet in dem Land, in dem die Ideologie der Volksgemeinschaft auch nach 1945 tief verankert blieb, beweisen zu müssen, daß Juden kein Recht hätten, worauf alle anderen Menschen ein Recht haben: eine eigene Kultur zu haben, eine eigene Sprache. Im Gegensatz zu Österreich, wo in den meisten Bücherschränken noch Jahrzehnte nach der Befreiung die Naziliteraten überwogen, war die herrschende Kultur damals in Erez Israel ausgesprochen sozialistisch. In erster Linie war sie bestimmt vom Sieg der Bolschewiki 1917 — oder zumindest von dem, was diese vorgaben. Wir konnten und wollten während des Zweiten Weltkrieges auch nicht wissen, daß uns da etwas vorgeschwindelt wurde. Jedenfalls war für uns die Sowjetunion, deren Rote Armee von Sieg zu Sieg stürmte, ein Vorbild. Die Sowjetbürger kämpften mit der Waffe in der Hand oder ermöglichten mit ihrer Hände Arbeit diese Siege. Die Stachanow-Bilder sah man in „Ogoniok“, der sowjetischen Illustrierten, die im Lesesaal des Kibbuz auflag, so wie auch viele andere sowjetische Publikationen, etwa die „Internationale Literatur‘, die in Moskau auch in deutscher Sprache herausgegeben wurde und in der antifaschistische deutsche und sowjetische Schriftsteller schrieben. Die Sowjetunion baute ihren Sozialismus in einem Land, wie Stalin sagte, und wir bauten unseren jüdischen Sozialismus in Erez Israel, mit einer Parallelgesellschaft, das heißt, wir waren Mitglieder der Histradut, der Gewerkschaft und die Histradut hatte eine eigene Krankenversicherung. Wir waren von der Wiege bis zur Bahre in einer zionistischen und sozialistischen Gemeinschaft aufgehoben, die uns auch die notwendige menschliche Wärme geben sollte. Das war nur eine von vielen Fehleinschätzungen. Wie hätte uns ein Kollektiv die Wärme einer Familie geben können? Aber damals glaubte man im Kibbuz, wenn wir nur von der Früh bis spät abends in der Gemeinschaft wären, dann würden wir den Verlust der Familie nicht mehr spüren. Die Redaktion ZW beglückwünscht den ebenso streitbaren wie kenntnisreichen jüdischen Publizisten Karl Pfeifer zu seinem 75. Geburtstag am 22. August 2003. Pfeifer hat, früher als Redakteur der „Gemeinde“, der Zeitschrift der jüdischen Kultusgemeinde Wien, und heute als freier Mitarbeiter von Zeitungen und Zeitschriften wie „Der Standard“ und „Illustrierte Neue Welt“ erheblich dazu beigetragen, daß die in Österreich gegen einen ehrlichen Zugang zur eigenen Geschichte errichteten Blockaden zumindest teilweise durchbrochen werden konnten. Ein besonderes Augenmerk widmete er immer den Entwicklungen in den ehemaligen sozialistischen Ländern, wo die nach den langen Jahren der Diktatur errungene Freiheit mitunter auch als das Recht zu einem neuen Antisemitismus und als Gelegenheit zur Rehabilitierung faschistischer Regimes, die sich im Zweiten Weltkrieg mit Hitlerdeutschland verbündet hatten, aufgefaßt wurde. — Der vorliegende Beitrag schließt an Karl Pfeifers in ZW bereits erschienene autobiograPphische Skizzen an: „Wie aus mir kein Ungar wurde“ (Nr. 4/2000, S. 38-39) und „Unterwegs nach Palästina“ (Nr. 3/2001, S. 46-48). 13