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Tante Grete „verstehst du nicht deutsch? Soll ich dir’s beibringen?“ Die Dame schüttelte den Kopf. „Wie er sie angebrüllt hat! Aber sein ganzes Geschrei stieg nicht so hoch, wie sie über ihm stand.“ Ja, so dachte man von ihr. Auch die Frau, mit der ich von ihr sprach. Sie hatte mehr als zwei Jahre Konzentrationslager überlebt und dort meine Tante Grete kennen gelernt, die es nicht überlebt hat. Sie erinnerte sich noch jetzt, mit voller Deutlichkeit an sie. Wer Tante Grete gekannt hatte, verstand das. Ihr heiterer Blick, ihr aufmerksames Zuhören, der stille, freundliche Humor ihrer Antworten waren ein zu einprägsamer Ausdruck dieser Klarheit verlangenden und bietenden Persönlichkeit, als daß man diese hätte vergessen können. Klarheit, ja darüber hinaus Sorgfalt, aber eine ungezwungene, natürliche, kennzeichnete ihr Sprache, an der jener Aufseher im KZ Anstoß nahm, weil seine - seine! — Satzformulierung ihr nicht ganz mühelos zugänglich war. Die Dame, die es mir erzählte, hatte das Gebrüll selbst gehört, dieses Anschreien ‚„Verstehst du nicht deutsch? Soll ich dir’s beibringen?“, ungeduldig, weil Tante Grete sein Idiom nicht schnell genug aufgenommen hatte. Beibringen! Ihr! Ihr, die selbst durch viele Jahre dem ,,Beibringen“ einen besonderen Wert verliehen hatte. Tante Grete war Sprachlehrerin. Sie unterrichtete — privat, nicht an einer Schule — Französisch und Englisch. Einer ihrer Schüler war ich. Sie war eine gute, eine sehr gute Lehrerin. In den langen Exiljahren in Südamerika geschah es mehrmals, daß ein Amerikaner oder Brite mich fragte, wo ich, in Südamerika „zu Hause“, mein Englisch gelernt hätte. Da war es jedesmal ein Vergnügen, auf die schlichte Auskuft „Bei meiner Tante Grete in Wien“ ein Paar Augenbrauen überrascht hochsteigen zu sehen. Zwei kleine Hefte, sogenannte „Oktavhefte“, ließ sie mich führen, eines für Vokabeln, das andere für „anglicisms‘, typisch englische Redensarten. In ein drittes, größeres Heft schrieb ich meine englischen Aufsätze. Den Abschluß einer Lehrstunde bildete zumeist englische Lektüre. Da man damals mit Geldausgaben sehr zurückhaltend sein mußte, griff man zu einem Buch aus Tante Gretes Bibliothek. In meinem Falle konnte das gar nicht anders sein, denn von den Eltern dieses Schülers, ihren Schwägersleuten, den Ankauf eines Buches zu verlangen, wäre ihr nie eingefallen. Auch den Eltern anderer Schüler half sie sparen, wo es ohne Nachteil für den Unterricht möglich war. Was mag aus ihren schon der Kalligraphie wegen bewundernswerten Tagebüchern, dem Niederschlag aller, auch ganz kleiner Familienereignisse geworden sein? Wahrscheinlich wurden sie in der Wohnung gefunden und verheizt. Einen Flammentod, der etwas Feierliches hat, hätte Tante Grete zweifellos als würdiges Ende ihrer Erinnerungen gelten lassen. Dieser freilich hatte nichts Feierliches an sich, doch darüber wissen wir nichts Näheres. „verstehst du nicht deutsch?“ Von sanftem Humor, sprachspielerisch war das Deutsch der Gedichte, die sie zu Geburtstagen oder anderen Anlässen innerhalb der Familie schrieb. Immer in „Kurrentschrift“, nur Eigennamen oder sonst hervorzuhebende Wörter mit lateinischen Buchstaben. So ein Gedicht besitze ich noch heute. Es ist vom 13. Dezember 1924, ist 83 cm lang, ein wenig angegilbt und begleitete damals ein Geschenk. Zu meinem dreizehnten Geburtstag schenkte sie mir eine Weckuhr und dazu ein Gedicht, denn ein Geschenk bloß nüchtern überreichen „so wie gar nix“, das gab es für Tante Grete nicht. Ich lese: Frühaufstehn ist eine Tugend,/ Fest ist meist der Schlaf der Jugend... So ungefähr hätte Wilhelm Busch die Aufzählung von Situationen, in denen ein Wecker sich nützlich erweist, einleiten können. Schwellt ein Glück die junge Brust, Freu’ dich sein nach Herzenslust, Trag’s mit lachendem Gesicht, Ewig dauert es ja nicht. Aber dann, in trüben Tagen, Darfst du nicht verzweifelt klagen. Bricht dein Herz auch fast entzwei — Hab’ Geduld! Es geht vorbei — „Verstehst du nicht deutsch?‘ Die Dame, die sie kannte, erzählte mir, wie man aus ein paar Worten Tante Gretes eine — so sagte sie — „Blitzerholung‘“ gewinnen konnte, einfach durch ihre Sicht, ihre Beurteilung der Dinge. Sie erinnerte sich. Da waren wieder Appell und Zählung und was sonst noch dazugehörte, alles stramm, zackig, streng. Danach sagte Tante Grete zu ihr: „Die wissen nicht, daß alle diese imponierenden Anreden wie Herr Scharführer, Herr Sturmbannführer, Herr Obersturmbannführer, Kommandant, Oberkommandant, Herr Oberoberkommandant, Herr Oberober Irgendwas, daß das alles in gewissem Sinne eine menschliche Herabsetzung ist. Die wirklichen Menschen in diesem Lager reden einander ohne Titel an, per Du, einem Du der Menschlichkeit und der Traurigkeit, dem echten Du.“ Hat sie das im KZ gelernt? Es muß wohl so gewesen sein, denn vorher hätte sie sich nicht so leicht über konventionelle Anreden hinweggesetzt, dazu wäre sie zu schüchtern gewesen. Solche Freiheit hat sie erst als Gefangene gefunden. Aber sprachbewußt blieb sie, nahm auf, was sie hörte, selbst in dieser Lage noch jedes Wort auf seinen Gehalt prüfend, auch das kleinste. —,,Verstehst du nicht deutsch?“ Sie verstand es, Herr Oberober Irgendwas. Sie verstand es sehr gut. Und sie verstand noch mehr. Ihre einstige Mitgefangene erzählte mir von ihrer unter den gegebenen Umständen doch seltsamen heiteren Gelassenheit. Die meisten dieser Frauen waren verzweifelt, einige klammerten sich wider Wissen und Wahrscheinlichkeit an den Strohhalm Hoffnung. Tante Grete war die einzige, die sich weder Illusionen machte noch einer nutzlosen Verzweiflung überließ — vielleicht gab gerade die richtige Beurteilung der Situation ihr die Kraft, ihr Schicksal mit Ruhe auf sich zu nehmen. „Laßt jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet!“ zitierte sie einmal im Gespräch mit einigen Frauen. Keine kannte diese Worte. „Dante. Die Aufschrift auf dem Höllentor“, erklärte Tante Grete. Sie sehnte sich unbeschreiblich nach ihren zwei Söhnen, doch durfte sie annehmen, daß diese irgendwo außer Gefahr waren. Das erleichterte ihr alles, was 19