OCR
ihr selbst widerfuhr und noch bevorstand. Keine nachhängende Trauer, keine Furcht. Sie wußte, daß sie ihre Familie, ihre eigene Welt, nicht wiedersehen würde. Und dieses Wissen brachte ihr die innere Ruhe, die den meisten anderen fehlte. „Ich habe mich mit allem abgefunden“, sagte sie einmal zu meiner Informantin, mit der sie sich gut verstand. „Und wissen Sie, warum? Nein? Weil mir nichts anderes übrig bleibt. Darum! Es geht mir so wie dem Juden, der prahlte, er sei stolz darauf, Jude zu sein. Auf die Frage, warum er darauf stolz sei, antwortete er: ‚Wenn ich nicht stolz darauf wäre, so wäre ich trotzdem ein Jude. Also leiste ich es mir, stolz zu sein.’ Fällt Ihnen auf, daß dieser Mann genau so denkt wie die Nazis? Ja, ja. Er ist stolz nicht auf etwas, was er getan hat, sondern auf das, was er ist, ein Jude. Und die Nazis bringen uns um, nicht weil wir etwas getan haben, sondern weil wir etwas sind, Juden. Merkwürdige Übereinstimmung, nicht wahr?“ Sie lachte, als sie das sagte. Stellen Sie sich das vor! Sie lachte. Es gab wahrhaftig nichts zu lachen. Da wurde mir klar, wie weit sie uns anderen voraus war. Ich danke Gott, daß ich ihr auf ihren Wege nicht nachfolgen mußte, daß ich das alles überlebt habe. Eine große Gnade. Aber eines tut mir dabei leid. Daß ich Ihrer Tante Grete, als es so weit war, nicht mehr „Danke!“ sagen konnte. Tante Bertha und Onkel Leo „Ich möchte dir zum Abschied etwas schenken“, sagte Tante Bertha. „Aber du wirst auf einem Schiff arbeiten und ich weiß nicht, was man einem Seemann schenkt, etwas Nützliches. Aber gleichzeitig auch eine Erinnerung, denn wer weiß, ob wir uns noch einmal sehen werden. Nimm diesen Spiegel! Einen Spiegel braucht man immer und dieser soll dir überdies ein Andenken sein.“ Sie reichte ihn mir. Ein schönes Stück, feinster Schliff, der Rahmen aus gehämmertem Silber, die Rückwand mit einem violetten, samtartigen Stoff überzogen. „Wenn du in diesen Spiegel schaust, so denk’ an deine Tante Bertha.“ Als sie jung war, hat sie oft hineingeschaut. Mit Fragen und Wünschen, mit Hoffnung und Zweifeln. Ob sie einen guten Mann haben werde, wollte sie wissen und lauter solche Sachen. Also, dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Allerdings mit einer schweren Prüfung. „Du weißt ja, daß Onkel Leo im Krieg war. Es war eine böse Zeit, für alle und jedermann, aber für deinen Onkel und mich war noch ein bissel was extra drauf. Als wir nach Jahren endlich wieder beisammen waren, da hatten wir nur noch einen einzigen Wunsch: keine Trennung mehr. Nie mehr! Immer beisammen bleiben! Miteinander leben, miteinander sterben, so wie Philemon und Baucis, die zwei kleinen Leute mit der großen Liebe. Diese Geschichte habt ihr ja sicher im Gymnasium bei Ovid gelesen.“ Den Spiegel habe ich noch immer. Er hat die Jahrzehnte seit 1939 gut überstanden, ohne Bruch, ohne Sprung. Damit er unbeschädigt bleibe, habe ich ihn in einer Lade aufbewahrt. Wenn ich sie öffne und ihn sehe, dann denke ich an Tante Bertha, so wie sie es gewollt hat. Gleichzeitig an Onkel Leo, denn auch in der Erinnerung sind die beiden unzertrennlich. Sie waren ein noch junges Ehepaar, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Er würde nicht lange dauern, glaubte man, Leo Littmann, Leutnant oder Oberleutnant, würde bald wieder zu Hause sein. Aber der Krieg war längst zu Ende, und Leo Littmann noch immer nicht daheim. Er war in Kriegsgefangenschaft und da blieb er auch. 20 Diese schweren Jahre stellten Tante Bertha vor eine besondere Aufgabe. Sie gehörte einem Komitee an, das sich mit der Betreuung von Verwundeten, Hilfe für Heimkehrer und anderen Angelegenheiten befaßte. Vor allem Frauen arbeiteten da mit, einfache so gut wie Erzherzoginnen, die entweder selbst aktiv waren oder zumindest ein Protektorat, eine Ehrenpräsidentschaft übernahmen und von dieser Stellung aus ihren Einfluß ausübten. In ihrem Komitee kam Tante Bertha in ziemlich nahe Verbindung mit der einen oder anderen Dame des Kaiserhauses. Zurückdenkend finde ich, daß Tante Bertha recht gut zu diesen hohen Damen gepaßt haben dürfte. Sie hatte selbst etwas Aristokratisches in ihrer Art. Nie erhob sie die Stimme, ihr Sprechen, ihr Lächeln, der Blick ihrer guten grauen Augen, ihre zurückhaltende Liebenswürdigkeit, Kleidung, Frisur, ihr ganzes Wesen mochte den Eindruck einer jener Damen erweckt haben, die sich „ganz oben“ für die gemeinsame Sache, die selbstverständlich als „allein die gute‘ galt, einsetzten. Nicht ganz oben, aber auf ihrem Posten, tat Tante Bertha das auch, tat es ohne sich zu schonen mit ihrer ganzen Kraft, für die Soldaten, deren Familien, für das Vaterland — ein Wort ernst gemeint, ernst gesagt, ohne den spöttischen Unterklang, mit dem man es später versah. Sie mußte lange warten. Sicher wußte sie später nicht mehr, wie oft sie gemeinsam mit Mitarbeitern ihres Komitees und Vertretern des Roten Kreuzes auf dem Bahnsteig einen neuen Zug Heimkehrer empfangen, wie oft sie die fast gleichen Worte der Begrüßung gehört, Tränen der Rührung fließen gesehen hatte. Der Eine, auf den sie selbst wartete, war nicht dabei. Aber ich erinnere mich an den Tag, an dem unsere Familie sehr aufgeregt war. Man erklärte mir: „Heute kommt dein Onkel Leo!“ Mein Onkel Leo? Wer war das? Von diesem Onkel hatte ich nie gehört. Schon bald nach Kriegsbeginn war er an der russischen Front gefangen genommen worden und kam jetzt, erst jetzt, mit dem vorletzten Transport, nach Hause. Keine Erzherzogin befand sich unter denen, die diesen Zug erwarteten. Österreich war längst Republik. Ich war sehr befangen, als es eines späteren Tages hieß: „Morgen gehen wir wieder zu Littmanns, aber diesmal kommst du mit, damit du deinen Onkel Leo kennenlernst.“‘ Littmanns wohnten im Schwarzspanierhof, wo es genau so still war, wie es zu Tante Bertha paßte. Aber auch zu Onkel Leo. Vor mir, der ich schüchtern seine Hand ergriff, stand ein großer Mann, der mir mit ruhiger, tiefer Stimme freundliche Worte sagte, auf die ich nichts zu erwidern wußte. Der schüchterne Knabe wurde Gymnasiast, dann Student und besuchte Onkel und Tante im Schwarzspanierhof nicht häufig, aber gern. Manchmal sprach Onkel Leo von Erlebtem und Beobachtetem, von den Jahren in Rußland, in Sibirien. Dabei rauchte er stets seine Virginia, in Wien wie „Wetschina“ ausgesprochen, ohne die er nicht vorstellbar war. Gelegentlich konnte man irgendeine Winzigkeit lernen, wie etwa die richtige Aussprache russischer Wörter. Damals lief gerade der Film „Panzerkreuzer Potemkin“ in den Wiener Kinos. Ich sprach den Namen so aus wie ganz Wien es tat, doch Onkel Leo belehrte mich, daß das Wort „Potemkin‘“ wie „Patjomkin‘“ auszusprechen sei, womit er mir die Feder lieferte, die ich mir auf den Hut stecken konnte, wenn irgendwo von dem neuen Film die Rede war. Jahrzehnte später sah ich einen anderen Film. Auch einen, von dem viel gesprochen wurde, aber anders. „Schindlers Liste“ hieß er. An einer Stelle sah man im Hintergrund eines Konzentrationslagers eine große Gruppe Frauen, bereit zum Vernichtungsgang, alle nackt. Ich erschrak heftig, denn dieser Anblick machte mir mit einem Schlage bewußt, woran ich nie gedacht