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hatte: Daß auch Tante Bertha und andere Frauen unserer Familie sich vor anderen Leuten hatten entblößen müssen. Der Gedanke erschütterte mich. Diese Frauen! Sie, in allem Körperlichen stets von äußerster Zurückhaltung, Befangenheit, Schamhaftigkeit — diese Frauen vor aller Augen nackt! Wenn ein Todesurteil noch verschärft werden konnte, dann so! Für diese Frauen so! Und doch gab es noch eine andere Verschärfung. Man wußte, daß häufig Ehepaare auseinander gerissen wurden, daß sie, ihr ganzes Leben aufs innigste verbunden, den Gang in den Tod einzeln antreten mußten, ohne den geliebten Menschen an der Seite. Diese Grausamkeit hatte ich mir manchmal vorgestellt. Ich wußte, was sie für Bertha und Leo bedeutete. Bei einem Besuch in Wien zog ich einmal im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Erkundigungen über meine Familie ein, ohne viel zu erwarten. Doch es gab eine Information. Tante Bertha und Onkel Leo waren beisammen geblieben! Wo? Zuerst in Theresienstadt. Und dann ,,Abtransportiert am 21. September 1942 nach Maly Trostinec“. Wo war das? Von diesem Ort hatte ich nie gehört oder gelesen. „Ein Vernichtungslager“ klärte man mich auf. So war das also! Philemon und Baucis. Von ihnen hatte Tante Bertha gesprochen, als sie mir ihren Spiegel schenkte. Beisammen geblieben im Leben und im Sterben. Wo? Wie? Ihr großer Wunsch war erfüllt worden. Aber eben so, wie es aussieht, wenn die Hölle Wünsche erfüllt. Heinz Otto Für die Opernfreunde in unserem kleinen Kreise wurde gelegentlich eine Zusammenkunft so gestaltet, daß man nach Bewirtung und Gesprächen eine Videokassette vorführte. Auf diese Weise sah und hörte ich zum ersten Male die Oper „Der Konsul“ von Gian Carlo Menotti. In jener Nacht konnte ich nicht schlafen. Es war als hätte der Druck auf die Taste „Rewind“ nicht nur das Band, sondern auch die Zeit zurücklaufen lassen. Am Ende der Rückspulung blieb auch die Erinnerung stehen, ließ sich nicht löschen, nicht abschalten. Erinnerung an eine Zeit schicksalformender Erlebnisse. Zu jenen Österreichern, die im Jahr 1938 und danach sich der Erkenntnis, in ihrer Heimat als überzählig, ja sogar als Parasiten an dem sonst so gesunden Volkskörper zu gelten, nicht länger verschließen konnten, gehörte auch ich. Die Ereignisse machten eine tief ins Leben greifende Umstellung notwendig, man mußte sich entscheiden, entweder das Land zu verlassen oder das Risiko des Bleibens auf sich zu nehmen, wobei das Risiko jedoch so hoch war, daß der Ausdruck „entscheiden“ nur als ein Euphemismus zu verstehen ist, es sei denn, man wollte die Wahl zwischen Leben und Sterben als eine entscheidungsoffene ansehen. So kam es, daß ich, ein junger Jurist, die nächste Phase meines Lebens auf einem norwegischen Tanker zubrachte. Als Seemann. Das Schiff fuhr leer nach Nord- oder Südamerika und brachte Petroleum nach Europa, immer nach Amsterdam oder Rotterdam. Das ermöglichte mir jedesmal ein Wiedersehen mit einem mir besonders nahe stehenden Mitglied unserer Familie, meinem Cousin Heinz Otto. Er hielt sich in Holland auf, weil er eine Wartezeit von unbestimmter Dauer dort sicherer verbringen konnte als in dem Lande, wo er geboren und wo er seine jungen achtzehn Jahre verlebt hatte. Worauf er wartete war ein Affidavit, die Garantie eines amerikanischen Biirgers, daB der eine Einreise Begehrende dem Staate nicht zur Last fallen werde. Wie kam man zu so einer Garantie? Mancher mit Hilfe eines in Amerika lebenden Verwandten oder Freundes, andere durch Verbindung mit einflußreichen Personen, mit einer anerkannten religiösen, politischen, sozialen Gruppe, oder gelegentlich durch ein Telefonbuch. Es kam vor, daß ein Verzweifelter, der keinen anderen Ausweg wußte, im Telefonbuch von New York oder einer anderen großen Stadt einen Namensvetter suchte und fand. Dem schilderte er die Lage und bat, mit dem Versprechen, es werde eine reine Formsache sein, die Garantie für ihn zu übernehmen. Manche, sehr wenige, hatten Glück, bekamen das Affidavit und waren gerettet. Auf wessen Garantie Heinz Otto wartete, weiß ich nicht mehr. Die Familie war froh, daß es gelungen war, ihn in Holland unterzubringen. Bei der Zuweisung einer Arbeit hatte er jedoch nicht gerade Glück. Er kam zu einem ganz kleinen Bauern, der nur eine Art Dialekt sprechen konnte. Dort mußte er täglich 12 bis 14 Stunden lang sehr schwere Arbeit verrichten. Eine Änderung war erst möglich als er wegen vollkommen vereiterter Hände diese Arbeit nicht mehr leisten konnte. Dann wurde es besser, er kam zu einem Fotografen. Zur Auswanderung hatte ihm sein Vater, ein sehr guter Amateurfotograf, einen hochwertigen Apparat geschenkt, mit dem er in Rotterdam auf dem Schiff, auf dem ich arbeitete, ein paar Aufnahmen von mir machte. Danach gingen wir in die Stadt und er erzählte mir von seiner geplanten Auswanderung in die Vereinigten Staaten. „Es ist sicher eine ganz andere Welt als die unsere“, meinte er. „Aber das was wir jetzt haben, ist ja auch nicht mehr unsere Welt. Vielleicht ist die dortige besser. Wahrscheinlich. Ich bin jedenfalls bereit, mich auf das Neue einzustellen, mich anzupassen, denn von einem Emigranten, der an einem Rettungsgürtel hängend hereinschwimmt, darf man das wohl verlangen. Freilich — Europa ist viel wert, wir sind Europäer, ich werde es sicher sehr vermissen, aber das ist halt der Preis, den ich bezahlen muß und es ist kein zu hoher Preis.“ Damals wußte er noch nicht, daß es sogar der Preis für eine Lebensrettung gewesen wäre. Er begleitete mich zurück zum Schiff. Ich wußte, daß wir mit allen Tanks voll Petroleum wieder nach Holland kommen würden, und sagte ihm, wie sehr ich mich schon jetzt auf unsere nächste Begegnung freute. Er lachte. „Ich auch, aber ich glaube, wir freuen uns zu friih. Mein Affidavit wird sehr bald kommen. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, bin ich bei deiner Ankunft nicht mehr hier.“ Es ging nicht mit rechten Dingen zu. Als ich das nächste Mal nach Holland kam, trafen wir uns wieder. Heinz hatte aus arbeitsrechtlichen Gründen seine Stellung bei dem Fotografen aufgeben müssen, jedoch eine andere gefunden, als Gehilfe eines Gärtners. Das Affidavit war noch nicht da. „Jetzt kann es aber wirklich nicht mehr lange dauern“, meinte Heinz. „Man verlangt von meinem Garanten Nachweise und noch mehr Nachweise, das alles braucht halt seine Zeit. Ich habe mich jedenfalls bei dem amerikanischen Konsul gemeldet. Mit ihm selber konnte ich natürlich nicht sprechen, aber der Beamte dort hat mir gesagt, es hätte sowieso keinen Sinn, mit ihm zu reden, denn ohne das Affidavit kann er nichts tun, ich mu eben noch Geduld haben. Bitte sehr, habe ich! Daran soll es nicht fehlen. Ich bemühe mich ja, alles zu verstehen. Bürokratie muß sein und die Bürokraten wollen auch leben.“ Gewiß wollten sie das, aber Heinz wollte es auch. Persönlich besaß er alle Voraussetzungen dafür. Er war ein gut gewachsener, schöner junger Mensch, war kräftig, zu jeder Arbeit 21