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„Nur an einem Buch [schreibe er]‘“, bekennt Fred Wander in seinem Text Selbstbefragung (1994), in dem er an sich und sein Werk Fragen stellt und zugleich Antworten gibt, die, wie mir scheint, die zentralen Dimensionen der Identität Wanders sowie den Kern seiner Poetologie benennen. Wanders Werk hat den Anspruch, „in sich die Menschheit als Ganzes zu erleben“ —, „eine Art Universität [...], eine ganze Wissenschaft über die Menschen“, wie es schon 1951 in der zu Unrecht bis heute vergessenen Kurzgeschichte „Linie 31 spricht aus Erfahrung“ skurril zugespitzt heißt: „Glauben Sie, [weil ich eine Straßenbahn bin -] daß ich nichts zu sagen habe? Im Gegenteil. [...] In Wahrheit bin ich eine Art Universität. Und ich führe die verschiedensten Fakultäten, wie zum Beispiel: Soziologie, Philologie, Philosophie, Psychologie ... [...] Oh, ich habe ein gutes Gedichtnis. [...] wollte man mich nur anhören, ich könnte eine ganze Wissenschaft über die Menschen aufstellen. [...] Aber ich will ja keine Statistik geben. Ich bin nicht für das Bürokratische. Ich kann sehr dramatische Geschichten erzählen oder Geschichten voll süßer Heiterkeit [...]. Ich höre alles. Und ich merke mir alles. [...] Ich habe Menschen sterben sehen, das ging schnell... Und dann, dann war alles wieder wie gewöhnlich. Vielleicht werden sie mich einmal abschaffen. Man sagt, ich bin eine veraltete Erscheinung.“ Vieles, was das spätere Werk Wanders mitbestimmt, ist hier schon angedeutet — z. B. die Thematisierung von „Gedächtnis“ und „Erinnerung“, das Geschichtenerzählen als Ergebnis detaillierter Beobachtung, das schreibende Erinnern als Dokument historischer Zeugenschaft bei gleichzeitiger Reserve dem bloß Dokumentarischen gegenüber und die lakonische Feststellung von der brutalen Wiederkehr von sogenannter „Normalität“. Aber beobachten wir genauer. 24 Fragt man nach dem Fundament und den Eckpfeilern dieses ,,einen Buches“, von dem Fred Wander spricht, die nicht nur in den inzwischen anerkannten und bekannten Erzählungen faßbar und thematisiert werden, sondern auch in den ausgesprochen erhellenden Interviews und Essays wie z. B. „Brief an Primo Levi“ (1982), „Zwei Bagatellen. Worüber ich schreibe. Der Blick von unten“ (1997) oder „Wie ich mich als Jude sehe‘ (1999), so wird ein Denk- und Schreibkosmos, eine Haltung, erkennbar, in dem folgende Aspekte insistierend vorkommen und untrennbar aufeinander bezogen wiederkehren: Sehen und Beobachten; Erinnern und Erzählen; Wandlung und Verwandlung. Sehen und Beobachten Die „äußerste Konzentration auf das Betrachten menschlichen Verhaltens“, das Sehen, Schauen und Beobachten, die Entwicklung der „besondere[n] Sensibilität der Augen“, aber in einem „Blick von unten“, nicht zuletzt die Fähigkeit und Kraft eines zweitausend Jahre alten Erbes der Juden, „am Rande des Abgrundes und im allgegenwärtigen Bewußtsein des Todes‘, als „geborene Beobachter, die aus der Tiefparterre die Vorübergehenden betrachten“ und so „frühzeitig zu geübten Kennern menschlicher Verhaltensweisen‘ wurden, all dies trifft auf Fred Wander zu und so versteht er sich explizit als Teil dieses jüdischen Erbes. An unzähligen Stellen seines literarischen und essayistischen Werkes ist von diesem „schönste[n] Geschenk der Natur“, wie Wander — Albert Einstein zitierend — notiert, die Rede: „Freude am Schauen und Begreifen [...]“. Drei Quellen nennt der Autor, aus denen er sein Sehen- und Begreifenlernen geschöpft habe — der frühe „Glücksfall‘“, „einen großen Buckel“ zu haben, was euphemistisch die Tatsache meint, daß er als jüdisches Kind im antisemitischen Wien verprügelt, verspottet und gedemütigt wurde, weiters die Vogelfreiheit, die er genoß, als Bub „täglich fünf bis sieben Stunden auf der Straße“ sein zu müssen oder zu dürfen, und schließlich — wie bei vielen großen Autoren - die intensive Lektüre von Büchern. In der Folge entwickelt Wander seine „Röntgenstrahl“-Poetologie, in der es — so wie in der künstlerischen Fotografie — darum gehe, „die unsichtbaren darunterliegenden Schichten freizulegen“ oder, wie er formuliert, „eine mythische Behandlung der Realität“ zu leisten. Es ist sicher kein Zufall, daß ihm Primo Levis Buch „Ist das ein Mensch?“ Vorbild ist, weil dieser Text für Wander nicht nur den „Bericht eines Augenzeugen“ darstellt, sondern den Maßstab abgibt, „unsere Instrumente des Nachdenkens und der Beobachtung daran zu messen, zu prüfen und zu schärfen.“ Man könnte zugleich auch sagen: Wanders Wiener Schule des Sehens ist als eine Schule des Mitleidens mit allen Kreaturen zu verstehen und sie ist zudem eine Schule der frühen Politisierung: Mitleid mit den „Kröten im Park und mit den Verwachsenen, den Krüppeln und den Verfemten“, heißt es etwa sprechenderweise. Es ist kein Zufall, wenn Wander in seinem großartigen Essay über Isaak Babel mit dem „Das Schaffen herrlicher Dinge“ (1979) das „Sehen“ als fundamentale politische Kraft erkennt: „Wer das Schwert führt für Freiheit und Gerechtigkeit, muß nicht nur geschickte und starke Hände haben. Vom Sehen eines Gesichtes bis zur Wahrnehmung der Leiden der Völker ist nur ein Schritt.“ Wanders Texte berichten nicht nur von der Lust an ungeschminkt heterogener Wahrnehmung, sondern ebenso unentwegt vom eigenen Staunen über das „Staunen“ bei anderen, über de