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ren „Fähigkeit zu schauen“ als einem unersättlichen „Hunger nach Erkennen, Wahrnehmen“, und sie berichten immer wieder über selbst-aufklärerische Selbstbeobachtung - als dem wichtigsten bewahrten Erbe seiner Kindheit. Wanders Faszination von Wahrnehmung und Sehen bekommt erst durch die Vertreibungs-, Flucht- Lager- und KZ-Erfahrungen des Autors ihre philosophische Tiefe und auch politische Relevanz. Es ist sicher bezeichnend, wenn er seinen „Siebenten Brunnen“, noch bevor über die großartige Erzählbegabung eines der Protagonisten mit dem Namen Mendel Teichmann die Rede ist, mit folgender Erinnerung an diesen Schlemihl beginnen läßt: „Aber noch immer hatte er [Mendel] seine äußerste Konzentration auf das Betrachten menschlichen Verhaltens gelenkt [...] da streckte sich Mendel, sein nasses graues Haar klebte in der Stirn. Die Augen lugten scharf darunter hervor, nicht hassend oder klagend, sondern gespannt. Was tut dieser Mensch, fragten die Augen.“ Mendel Teichmanns Verhalten wird angesichts der physischen und psychischen Vernichtungsmaschinerie KZ als Widerstehens-Haltung, als Gegenposition erkennbar, als ein unorganisierter persönlicher Widerstehensakt. Hier spricht einer, der sich seine Stimme nicht nehmen läßt, der sich gegen alle Zumutungen der Herstellung von schweigender und zum Schweigen verurteilender Normalität richtet. In Wanders Erzählung „Ein Zimmer in Paris“ steht der Satz: „‚Normal’ sein heißt: nicht sehen, nicht hören, allem zustimmen und schweigen. Einer, der die allgemeine Lähmung und Ohnmacht nicht ertragen will, nichts in Ordnung findet, muß in Ketten gelegt werden oder in die Zwangsjacke der Droge!“ Das Gefängnis, „die ungeheuerliche Maschine mit ihrer tödlichen Gesetzmäßigkeit‘‘ — Fred Wander zitiert hier Antonio Gramcsi — ist auch eine, die die Auslöschung des Sehens, der Wahrnehmung und damit auch die Verhinderung von Selbsterkenntnis zum Ziele hat. Der Angelpunkt von Fred Wanders Texten ist seine IchEntwicklungs- und Wahrnehmungsphilosophie, in der das Lager und das KZ als höllische Orte strategisch geplanter Wahrnehmungs- und Redevernichtung und damit Ich-Vernichtung fungieren, Menschen als „Objekte für Demagogie und Massenwahn“, so Christa Wolf, mißbraucht werden, wogegen sich z. B. Mendel Teichmann, Meir Bernstein, aber auch Leon Feinberg oder Tadeusz Moll und der lernende Ich-Erzähler trotzig beobachtend und Geschichten erzählend zur Wehr setzen, auch wenn Tadeusz Moll beim Erzihlen ,,schlottert“ und ihn das Erzählte „würgt [...] wie Erbrochenes, krampfhaft“. Freilich, Wanders Lob des Sehens, seine Auffassung von der erhellenden und zugleich selbst-erhellenden Kraft des „unersättlichen Sehens“ ist ohne seine Schlemihl-Theorie nicht zu verstehen, wie er sie in Anlehnung an Hannah Arendt entwickelt hat. Um sie kreist Wanders Denken unablässig. Schlemihl, in der Wanderschen Lesart der jüdische Typus „ein[es] Pechvogel[s], der aber ein paradoxes Glück kennt“, „eine Art Lebenskünstler, der aus jedem Nachteil einen Vorteil zu machen versteht, aus einer Schwäche eine Kraft und aus seinem Außenseitertum eine Art Freiheit‘, gehört - in einer Welt der „Polarität“ zwischen den „Ansässigen eines Landes und den Zugereisten, den Heimatlosen, den Fremden“ natürlich der Klasse der ,,Fremden, Außenseiter, Flüchtlinge“ an -, die aufgrund ihrer Lebenssituation gezwungen sind, „ein geschärftes Bewußtsein zu entwickeln, eine besondere Sensibilität der Augen.“ Es sind diese Schleminhle, die „in der Welt der Gegensätze‘ in Form eines „ın der Tiefe wirkenden [Prozesses]“ gegen „Verengung“, „Verkrampfung“ „Erstarrung und Versteinerung“ auftreten, nach „neue[n] Welten suchen, die erstarrten Lebensformen durchdringen, von innen aufbrechen“, wie es zuletzt in einer Rede Wanders über „Offene Fragen zur Heimatlosigkeit der Juden“ (1995) heißt. Unweigerlich stellt sich erneut die Assoziation „Widerstand“ ein - als eine „Metapher für Leben“. In untrennbarem Zusammenhang damit steht Wanders Diaspora-Identität. Er versteht sich als ein Jude, der bis heute „in der Verstreuung lebt“, wie er formuliert. Er meint, in den jüdischen Schlemihls geradezu Symbole für ihre „Rolle in [diesem] Drama der Menschwerdung‘“ sehen zu dürfen. Weit davon entfernt, die instrumentalisierbare Legende oder den Mythos des auserwählten Volkes der Juden zu nähren, meint er in den jüdischen Schlemihls geradezu Symbole für ihre „Rolle in [diesem] Drama der Menschwerdung‘“ sehen zu dürfen. Erinnern und Erzählen Das Gesehene, das Geschaute aufzubewahren, den Verlust des Gedächtnisses nicht zuzulassen (Christa Wolf), das ist der Antrieb und das Widerstandszentrum aller Arbeiten Fred Wanders — faßbar in unzähligen Erzählmomenten unterschiedlicher, meist jüdischer und oft auch auf Jiddisch berichtender Erzähler und Vermittler, immer zusammengehalten von der aus der Erfahrung der Diaspora geschöpften Überzeugung, daß das erzählende Erinnern Brot des Lebens bedeutet. Daraus sei außerdem die Erfahrung zu schöpfen, in einem großen Generationszusammenhang zu stehen, wenn auch meistens in einem sehr bedrängenden. Denn es gebe, so Wander „eine Art Erinnerung in uns, Erinnerung an Vorfahren, an hundertfach gelebtes, verfehltes, herrliches Leben, an Liebe und Tod, an Krieg, Flucht und Verhängnis“. Erinnern und Erzählen nicht nur als Spurensuche nach dem Schrecklichen, sondern nach dem vielgestaltigen, unzerstörbaren Leben. Wanders Reflexionen über das Erinnern sind grundsätzlich bestimmt vom Lager-Erlebnis, alle Erinnerungen haben ihr Zentrum in diesem: „Die Baracke [...] wurde ich nicht los [...]. Keiner, der dort war, wird je wieder aus dieser Baracke herauskommen.“ Kein Erinnerungsbild, keine alltägliche Beobachtung, die nicht durch Bilder der Flucht oder aus dem KZ, die sich einstellen, überlagert würden. Es gehe dem Ich-Erzähler, so heißt es in dem Roman „Hötel Baalbek“, wie einem indianischen Muana-Mann, der nirgends mehr hingehen könne, ohne daß ihn nicht „seine Toten begleiten“ würden, ohne daß sie um ihn herumsitzen und ihm zusehen würden, denn es gehöre zum Totenkult, „das Messer eines Toten, seinen Gurt oder ein Büschel Haare als Symbol“ an sich zu nehmen: „er hat gelernt, mit den Toten zu leben.“ Der Charakter des Mendel Teichmann, sein „erlösendes Wort“ aus „Der siebente Brunnen“ und die „magische[n] Kräfte“, die seine Rede im Lager frei macht, sind das Paradigma, dem alle Geschichtenerzähler Wanders nacheifern. Wanders Erzählungen orientieren sich an diesem „Sucher“, an diesem „Zaddik“, an diesem Magier des Wortes, an Mendel, der es, wie einige aus seiner Sippe, schaffen, „eine Ahnung von jenem lebendigen Leben in kosmischer Entfernung [zu erwecken], wo es noch Lieder gab und blühende Bäume, Frauen - und eine warme Stube, in der es nach gutem Essen riecht.“ Hans Höller hat von Wanders „plebejische[m] hohen Lied auf jene erst durch den Tod endgültig verstummende Sprache des 25