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Lebens“ gesprochen. Einzig und allein darum sei es Wander zu tun. Dem ist zuzustimmen. Die erzählte Welt Wanders umfasse eine „unheimliche Skala“ der ‚„Manifestationen des Lebenstriebs“, was von „kreatürlichen Gebärden bis zum geformten Wort [reiche], von den reflexhaften Bewegungen eines Fingers [...] bis zu poetischen Erzählungen aus dem vergangenen Alltag, Pantomime, Zitate aus dem Talmud, mystische Spitzfindigkeiten, Lied, Rezitation, Gebet und philosophisches Gespräch [...].“ Den vergessenen Einzelnen erzählerisch wieder ihre spezifische Stimme und ihr besonderes Gesicht zu geben, sie der Anonymität zu entreißen, „die Würde der Ermordeten wiederherzustellen“ — darauf zielen Wanders literarische Arbeiten. Wandlung und Verwandlung Hans Höller hat erkannt, daß Wander den Versuch unternehme, die „Tradition der revolutionären Emanzipation“ mit der „erhellenden Mystik im Judentum neu zu verbinden“. Um ich-revolutionierende, ich-verwandelnde Emanzipation handelt es sich. Dabei beruft sich Wander nicht allein auf Traditionen der jüdischen Mystik, wie dies z. B. das Rabbi-Löw-Motto des „Siebenten Brunnen“ oder sein Interesse für die befreiende Kraft der christlichen Liebes-Vorstellung nahelegen, sondern auch auf andere, nicht nur jüdische Überlieferungstraditionen, wie z.B. den Zen-Buddhismus. Das Zentrale ist: Fred Wander, „einer, der bei den Toten war, ein ‚Wiedergänger’“, entwickelt aus dieser Position heraus eine Theorie des stetigen, zu keinem Ende kommenden Sich-Verwandelns, was mit Begriffen wie Offen-, Einfach- und Sehend26 werden, Zusichkommen, Reinigen oder Selbstbefreiung umkreist wird. Vorstellungen von Individualität und Widerstand gegen verordnete „Normalität“, Stärke, Würde, Reinheit, Durchsichtigkeit und Lebendigkeit stehen damit in untrennbarer Verbindung. Zugleich wird aber auch eine utopische gesellschaftliche Perspektive konnotiert — „für künftige Geschlechter bereit, auf daß sie entsteigen der Dunkelheit, die Augen klar, die Herzen befreit‘, wie es bei Rabbi Löw heißt. Im Roman „Hötel Baalbek“ wird eine parabelhafte Geschichte aus dem Lagersteinbruch nahe von Montagnac im Süden Frankreichs erzählt. Von einem italienischen Steinbrucharbeiter, einem Polier namens Martini, ist da die Rede, der — wie ein Zenmeister oder Zaddik der Arbeitspraxis — die nicht erlernbare und an ein Wunder grenzende Fähigkeit besitzt, das „innere Netz“ eines Steinblocks magisch zu erkennen und den Block mit einem gezielten Hieb zu zerschlagen, etwa so wie etwa auch das magische Wort in einen verhärteten Menschen einzubrechen und ihn aufzubrechen weiß. Von Moritz Lederer, einem Freund und Mithäftling des Ich-Erzählers heißt es, er sei dagestanden, „als hätte er gerade im Himmel den goldenen Wagen des Schöpfers gesehen und alle seine Engel.“ In Texten, die nach dem „Siebenten Brunnen“ von Wander publiziert wurden, wird die dort angewandte mystische Interpretationsfolie des Rabbi Löw stetig durch zusätzliche Bezugssysteme erweitert und angereichert. Die Hauptthemen Wanders, „das Überleben [des nomadischen Typs, des Flüchtlings, des Andersartigen und Außenseiters, des Mißachteten und Gehaßten] in der Katastrophe“ und „die Selbstfindung in der Fremde und Anonymität“ werden insbesondere mit zen-buddhistischen Vorstellungen und Ideen in Zusammenhang gebracht, ohne dabei aber die Tradition der jüdischen Mystik aufzugeben. Eugen Herrigels Buch „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ wird von Wander zitiert, und zwar in dem für ihn typischen Kontext der elastischen, einzelgängerischen Strategien für das Überleben im KZ: „Widerstand? Jawohl. Aber auf eine passive - innerlich höchst aktive und wirkungsvolle Weise!“ Typisch für Wander ist außerdem, daß er wiederholt gerade dem jüdischen Schlemihl eine Neigung und Befähigung zu innerlich befreiendem Handeln zutraut. Zen-Buddhistisches Gedankengut wird angesichts von Wanders Hiob-Erfahrung eng mit dem biblischen Bild vom Auszug der Juden aus Ägypten, mit der Befreiung aus Sklaverei und Götzendienst und mit den Befreiungs-Vorstellungen aus Büchern der jüdischen Mystik (z. B. Esra, Mussar) zusammengedacht - im „Wissen um Tod und Endlichkeit“ zusammengehalten von der Beschwörung und Feier der „Wunder des Lebens“. In seiner Autobiographie „Das gute Leben“ (1996) formuliert Wander, Zeuge und unmittelbar Betroffener des Zivilisationsbruchs des 20. Jahrhunderts, die bilanzierenden Sätze: „Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Auf dem Hintergrund meines Bewußtseins spiegeln sich die Bilder der Wanderschaft und des Schreckens, wie auf einer Leinwand. Im Traum ziehe ich immer noch untröstlich durch fremde, endlose Straßen. [...] Das Wissen um den Hunger meiner Jugend, und um den Hunger in der Welt, gibt dem Brot, das ich esse, einen kräftigen Geschmack. Ich bin unterwegs, mein Gepäck ist leicht.“ Lieber Fred, mit allen guten Wünschen -— und - herzliche Gratulation zum „Iheodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil 2003“.