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ins Gesicht, daß dem die Unterlippe aufplatzte. Sofort war der andere herbeigesprungen und drosch dem Jungen mit einem Knüppel in den Unterleib. Der ging in die Knie. Du kleines, mieses Arschloch! Der Ältere wischte sich das Blut vom Mund und trat dem Knieenden mit dem Schuhabsatz gegen den Kopf. In den Unterleib. Den Rücken. Der mit dem roten Gesicht zerrte den Jungen an dessen Jacke hoch gegen die Wand. Er prügelte ein paarmal auf ihn ein, hielt dann inne und sah ihm in die Augen. Ist was los, fragte der andere. Keine Antwort. Sag bloß, der ist abgekratzt? Der mit dem roten Gesicht fühlte den Puls. Mit dem ist es vorbei. Hast ihn kaltgemacht. Und jetzt? Der Ältere zog aus seiner Hosentasche ein Taschentuch und betupfte sich damit die Unterlippe. Er hat doch einen Gürtel an, was? Sie zogen ihm den Gürtel aus. Sie schlossen ihn um seinen Hals. Sie stemmten den Jungen am Fenster hoch und banden ihn ans Gitter. Da hing er. Na, ist doch astrein, sagte der Alte, den am Fenster Hängenden von der Tür aus betrachtend. Warum er das wohl getan hat? Sicher hatte er mehr auf dem Kerbholz als wir vermuteten. Das kleine Arschloch. Er spuckte aus und wandte sich zur Tür, um den Raum zu verlassen. Marat Abrarov, tatarischer Abstammung, 30 Jahre alt, war in St. Petersburg als Journalist tätig und veröffentlichte neben journalistischen auch einige kleinere literarische Arbeiten. Zur Zeit arbeitet er an einem ersten Roman. Er lebt in Trier (BRD) und St. Petersburg. Nahid Bagheri-Goldschmied, geb. 1957 in Teheran, Tochter einer Unternehmerfamilie, arbeitete als Journalistin und studierte persisch-arabische Sprach- und Literaturwissenschaft an der Teheraner Universität. Seit 1980 in Österreich. 1983 Heirat mit einem österreichischen Physiker, seit 1989 geschieden. Freie Journalistin für muttersprachliche Exil-Medien in Europa, in den USA (vor allem Radio). Gründung und dreijährige Herausgabe der Kulturzeitschrift ,,Sokhane Aschena“ (,,Vertraute Gespräche“); Beiträge in zahlreichen Anthologien in Österreich, Deutschland, Schweden, Frankreich, USA, u.a.: Die Sprache des Widerstandes ist alt wie die Welt und ihr Wunsch (Wien 2000). 2001 Lyrikpreis „Schreiben zwischen den Kulturen 2001“ (Verein Exil, Wien). Bücher: Kantate der Liebe (Lyrik); Mohnrote Zeichen (Lyrik); Treffen im Herbst (Lyrik); In der Fremde (Roman; deutsch-persisch, Judenburg 1994). - Ihr Roman „Khawar“ (persisch 1999) wird 2004 im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft auf Deutsch erscheinen. Nahid Bagheri-Goldschmied In einer Stadt voller Flüchtlinge Wolken über der Stadt, Wolken über der Straße, Wolken über dem Haus. Am Kalenderblatt verblaßt ein grauer Septemberhimmel, der sich alle Augenblicke bei mir ausweint. In den Glocken schwingt der Tod, im Sekundenzeiger stockt die Zeit, erzeugt Ungeduld. Unten, beim Hauseck, zwei Regenschirme. Der Wind trägt ein böses Wort herauf „Ischuschn“. Und der Holzwurm nagt am Fensterrahmen. Ein lieber jüdischer Freund kommt zu Besuch. Bei der Umarmung ist der Spiegel Trostbett zweier Betrübter. Ich: gequält von den abgebrochenen Brücken hinter mir Er: heulend und zeternd über die nicht abgebrochenen Brücken zur dunklen Vergangenheit Und - laut geworden vor Entrüstung — ruft er mir über den Abgrund hin zu: Was für eine Trennung, was für eine Bedrohung, was für ein Elend sogar Brücken hier sind! Bei der Umarmung ist der Spiegel Trostbett zweier Einsamer. Wolken über dem Polster. Ich: Noch immer mit Reserven gegen dieses Fluchtland. Er: Eine Heimat hofierend, die sich ihm nicht gibt. Wien, 1992 Die Fenster der Welt - Lesung von Nahid Bagheri-Goldschmied Ort: Büchereien Wien, 1150 Urban Loritz-Platz 2 A, Veranstaltungssaal. Zeit: Donnerstag, 18. September, 20 Uhr Veranstaltet von buch im beisl. 29