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N N N ORPHEUS ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT TRUST Am 11. September 2003 wäre Theodor W. Adorno 100 Jahre alt geworden. Er war ebenso Philosoph und Soziologe wie Musikphilosoph und Musiksoziologe. Im berüchtigten NS„Lexikon der Juden in der Musik“ wurde „Wiesengrund-Adorno, Theodor“ als „einer der betriebsamsten Wortführer der jüdischen Neutöner“ bezeichnet. Wie in dieser Deportationsliste der Musik üblich ist auch der Ort seiner Herkunft und seines Wirkens angegeben: Frankfurt am Main. Seit seinem Studium bei Alban Berg und Eduard Steuermann Mitte der zwanziger Jahre hatte Adorno eine besonders ausgeprägte Affinität zu Wien - eine Affinität, die sich in der Zeit des Exils in England und den Vereinigten Staaten noch verstärkt haben dürfte. Seine Arbeiten zu Wiener Komponisten wie Mahler, Berg, Schönberg und Webern, seine Freundschaft mit Steuermann, Ernst Krenek, Rudolf Kolisch, Erwin Ratz, Hanns Eisler und Lotte Tobisch, seine Essays über Wiener Autoren von Kraus und Hofmannsthal bis Hochwälder legen davon beredtes Zeugnis ab. Die Stadt wußte es ihm immer auf ihre Weise zu danken und wird sich darin auch anläßlich des Jubiläumsjahrs gewiß nicht untreu: net amoi ignorieren. Musikleben und Kulturbetrieb sahen danach aus. Während Adorno etwa in Frankfurt, wo er in diesem Jahr mit vielen Dutzenden Veranstaltungen geehrt wird, einen Dirigenten wie Georg Solti dazu anregen konnte, sich mit Mahler auseinanderzusetzen — Solti wurde schließlich zu einem der wichtigsten Mahler-Dirigenten —, blieben nicht nur die Sitzreihen im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses leer, als Adorno bei den Festwochen 1960 einen Mahler-Vortrag hielt, sondern auch die Köpfe der meisten anwesenden Kulturberichterstatter. Jeder noch so stümperhafte Musikkritiker oder -professor fühlte sich hier auch später berechtigt, seinen Haß auf die Intellektuellen und seine Ressentiments gegen Adorno, der als Prototyp des arroganten deutschen oder - je nach Bedarf — jüdischen Intellektuellen phantasiert wurde, freien Lauf zu lassen. Ist es Zufall, daß in dieser Stadt ein Mitarbeiter jenes „Lexikons der Juden in der Musik“ bis in die frühen siebziger Jahre als Ordinarius der Musikwissenschaft und einflußreiche Persönlichkeit des akademischen und musikalischen Lebens wirken konnte? Gegenüber solcher Ignoranz, die sich mit wenigen Ausnahmen auch die Linke hierzulande zu eigen machte, scheint es geradezu unmöglich, im Rahmen eines kleinen Artikels Leben und Werk Adornos angemessen darzustellen. Der eben erschienene erste Band des Briefwechsels mit Max Horkheimer, der auch die frühen Jahre von Adornos Exil umfaßt, bietet vielleicht eine bessere Chance, das kritische Denken und die geistigen Erfahrungen des Frankfurter Philosophen und Musikphilosophen - sozusagen in statu nascendi — zu erinnern. I. Die Briefe, die sich Adorno und Horkheimer schrieben, können heute auf durchaus verschiedene Weise gelesen werden: zum einen als frühe Ausprägung und erste Formulierung der wichtigsten Erkenntnisse kritischer Theorie, der sogenannten Frankfurter 30 Schule; zum anderen als Quelle zu Funktionsweise und Struktur einer wissenschaftlichen Organisation, die zur Emigration gezwungen wurde; zum dritten als Reflexionen zweier Verfolgter des Naziregimes zur Weltlage wie zur alltäglichen Misere im Exil. Aber es macht den Begriff von Erfahrung aus, den Adorno und Horkheimer selber in ihren Gesprächen und Arbeiten formulierten, daß diese Ebenen doch nicht voneinander zu trennen sind. Und gerade darin ist die Publikation des Briefwechsels, die nun in ihrem ersten Teil vorliegt, nicht zuletzt eine fulminante Abrechnung mit den vielen geistlosen Arbeiten zur sogenannten Frankfurter Schule und ihres Umfelds — von Werner Fulds Benjamin-Buch über Hartmut Scheibles Adorno-Monographie bis zur ,,Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule“ aus dem Hause Friedrich Tenbruck. Insbesondere die neueste Biographie über Adorno von Stefan Müller-Doohm erscheint angesichts dieser Briefe wie eine Lehär- Operette von „... mußte er selbst noch zu jener Person werden, die außer der Musik und der Philosophie nichts lieber tat als die Hände der Damen zu küssen ...““ — MüllerDoohm über den jungen Adorno) neben einem Streichquartett von Schönberg („mit der Kraft unserer eigenen ‚transzendenten’ Einsicht die immanenten Gedankengänge des Feindes so zu operieren, daß sie darüber zerspringen“; Adorno an Horkheimer). I. Es sind hier viele Briefe erstmals publiziert, die Adornos frühe Einschätzung des Nationalsozialismus deutlicher erkennbar werden lassen. Deutschland, wohin er seit 1934 von England aus immer wieder reist, beschreibt er als „grauenvoller denn je, das Land ist wirklich bis in den kleinsten Alltag hinein zu einer Hölle geworden“. Von Erfahrungen wird hier zum ersten Mal berichtet, die noch in die späten Vorlesungen und in die Negative Dialektik eingehen sollten. Angesichts der „neuesten Entwicklungen“ — es ist die Zeit nach den Nürnberger Gesetzen — erkennt er endlich die wahre Lage seiner Eltern und seiner Freundin Gretel Karplus, fraglich ist geworden, „ob ihnen auch nur die Möglichkeit bleiben wird, ihr Leben — ein Ghettoleben! — zu fristen. Hitler bekommt alles konzediert und man wird ihm wahrscheinlich am Ende Rußland preisgeben, nur damit er nicht über die anderen Länder herfällt (- und freilich auch, um Rußland definitiv loszuwerden; die Duldung der Hitlerei ist nur durch deren Büttel-Funktion für den Kapitalismus zu erklären.) Und kein Ende abzusehen.“ In Anbetracht der weltpolitischen Konstellation beschwört er Horkheimer — „sei es auch um den schwersten Preis (und niemand kennt ihn besser als ich!) - „Disziplin“ zu halten und nichts zu „publizieren, was Rußland zum Schaden ausschlagen kann.“ Immer wieder betont Adorno, daß „die Aussicht auf einen fast sicheren Überfall Deutschlands auf ein isoliertes Rußland“, aber auch, daß „die innere Entwicklung in Rußland, wie sie sich in dem unsäglichen Trotzkistenprozeß und der Urteilsvollstreckung ausdrückt“, ihn wirklich verzweifeln machen. „Es ist keine Phrase, wenn ich ihnen sage, daß ich nicht weiß, wie ich diese Realität länger ertragen soll, es sei denn in der Gemeinschaft mit Ihnen.“