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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT TRUST than fordert das Racket den rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag.“ Das Institut ist ein Verband, der darauf baut, daß der einzelne den Rückhalt nicht verliert, sich nicht aller Macht als einzelner begibt, und wenn auch selbst nicht ungebrochen, so doch dem Kollektiv keine völlige Brechung seiner Persönlichkeit zugesteht. Dadurch wird es möglich, so vielen und so unterschiedlichen kritischen Schriftstellern in kleinerer oder größerer Distanz zur Institutsleitung Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen, ohne die Widersprüche, die sich daraus ergeben, systematisch zu eliminieren. Dennoch zeigt der Briefwechsel, daß das Institut, so viele es auch unterstützen konnte, sei’s bei der Arbeit, sei’s bereits bei der Flucht aus Deutschland (wie etwa im Fall des Fritz Moritz Rabinowitsch, dessen Rettung dokumentiert wird), zugleich — und nicht zuletzt unter dem Druck der Umstände des Exils — auf persönliche Abhängigkeitsverhältnisse bauen mußte. Adorno spricht diese Nähe zum Racket indirekt und mit merkwürdiger Ironie an, wenn er Horkheimer versichert, es werde in Paris keine Abmachung zwischen Benjamin und möglichen französischen Mitarbeitern geben, „ohne daß ich als Rottweiler knurrend darüber wachte‘“. An anderer Stelle heißt es im selben Sinn, „es soll da an meiner bewährten Brutalität nicht fehlen.“ Das Institut konnte niemandem ein richtiges Leben im falschen bieten. Es war schon gar kein „Grand Hotel Abgrund“ (Georg Lukäcs). Aber gegenüber den zeitgemäßen Rackets des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Stalinismus erscheint dieses einzigartige Anti-Racket geradezu wie die jüdische Gemeinde gegenüber der christlichen Kirche: es verlangt vom einzelnen nicht das Opfer. „Und wenn ich nur eines noch Ihnen nennen darf“, schreibt Adorno an Horkheimer, „wofür ich aufs tiefste dankbar bin, dann ist es dies: daß ein Schriftsteller meiner Art, der die tiefste Einsamkeit und die prinzipielle Unmöglichkeit, das was er denkt und sagt, je einzufügen sich zum a priori gemacht hat, nun plötzlich sich voll und real in eine bestehende und gute Kollektivität eingefügt sieht, ohne daß er sich darum ‚einfügen’ müßte.“ Allerdings sieht sich Horkheimer im Folgenden veranlaßt, möglichen Illusionen vom „guten Kollektiv“ entgegenzutreten und wendet ein, „daß Ihr Leben auch weiterhin die Existenz eines selbständigen Theoretikers sein soll, der versuchen muß, sich so gut wie möglich durchzusetzen.“ Vorzüglich ist die Kommentierung des Bandes durch die Herausgeber Christoph Gödde und Henri Lonitz. Vor kurzem ist übrigens auch Adornos Vorlesung über Negative Dialektik (in der Reihe der Nachgelassenen Schriften) erschienen —- und es gehört noch zur List von Adornos negativ dialektischer Vernunft, daß selbst eine einzige kleine Anmerkung von Rolf Tiedemann dazu gehaltreicher ist als manch allzu sehr Ausgearbeitetes anderer Zeitgenossen. So wie ein einzelner Brief an Horkheimer besser von den Widersprüchen in Adornos Leben erzählen kann als das ganze Geschwätz der Biographen, die sich etwas darauf einbilden, ihn noch im Hörsaal erlebt zu haben. (Das betrifft allerdings nicht das neue Buch von Detlev Claussen, das auch keine Biographie ist, vielmehr durch die Entfaltung der Widersprüche im Denken Adornos den biographischen Rahmen notwendig sprengt. Dieses Buch verdient zweifellos eine eigene Rezension.) Theodor W. Adorno/ Max Horkheimer: Briefwechsel 1927-1969. Bd. I: 1927-1937. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. 32 Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 608 S. (Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel. Hg. vom Theodor W. Adorno Archiv. Bd. 4). Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Etwa 24 S. Abbildungen. Ca. 1032 S. Theodor W. Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 358 S. (Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften. Hg. vom Theodor W. Adorno Archiv. Abteilung IV: Vorlesungen. Bd. 16). Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. FrankJurt/M.: S. Fischer 2003. 485 S. Walter Taussig ist tot Wie die New York Times mitteilt, starb Walter Taussig am 31. Juli 2003 mit 95 Jahren in New York. Die Zeitung veröffentlicht dazu ein Foto von 1998, darauf sieht man den aus Wien stammenden Dirigenten über einer Partitur, die seine Hand geradezu zärtlich berührt. Das vermittelt etwas von der Hingebung, mit der sich Taussig — als Chordirigent der Metropolitan Opera noch bis zum Sommer 2002 tätig — den Werken der Opernliteratur widmete. Er wurde am 9. Februar 1908 in Wien geboren und studierte hier bis 1928 an der Musikakademie: Harmonielehre, Kontrapunkt, Komposition und Klavier bei Franz Schmidt; Oboe bei Alexander Wunderer; Dirigieren bei Robert Heger. An der Wiener Universität studierte er Philosophie und Musikwissenschaft. Von 1929 bis 1933 wirkte er als Assistent, Chorleiter und Dirigent an verschiedenen deutschen Opernhäusern; von 1933 bis 1935 war er Dirigent und Begleiter auf Tourneen durch Italien, das Baltikum, die Türkei, Finnland. Ab 1935 arbeitete er an der Wiener Volksoper und am Theater an der Wien, unternahm aber ab 1937 weitere Tourneen u.a. nach Ägypten mit Richard Tauber. Von einer Tournee nach Kanada und in die USA, deren Abschlußvorstellung am 11. März 1938 in der New Yorker Carnegie Hall stattfand, kehrte er - von den Eltern gewarnt — nicht mehr nach Österreich zurück. Ein Jahr danach wurde er Konzertdirigent bei der Havana Philharmonie (Cuba) und 1941 Assistent von Fritz Busch und Antal Dorati bei der New Opera Company in New York. Später arbeitete er als Assistant conductor an der Montreal Opera (1946-49), der Chicago Opera (1946) und der San Francisco Opera (1947-49). Von 1949 an — also über ein halbes Jahrhundert — wirkte Taussig an der Metropolitan Opera (Assistant-, dann Associate chorus master, seit 1968 Associate conductor). Zwischen 1964 und 1982 war er außerdem Assistent und Dirigent bei den Salzburger Festspielen und arbeitete hier mit Karl Böhm und Herbert von Karajan zusammen. 1982 erhielt er die Auszeichnung „Medal of the Metropolitan Opera“, 1983 den „Emmy Award“ (Television). In dem Buch Orpheus im Exil (von Walter Pass, Gerhard Scheit, Wilhelm Svoboda, Wien 1995) finden sich große Teile eines längeren autobiographischen Interviews mit Walter Taussig aus dem Jahre 1992. G.S.