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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT 15. Mai 1955 Österreich feiert die Erlangung der Souveränität durch den Staatsvertrag. Tausende Kilometer weit entfernt, in Reykjavik, bereitet sich an diesem Tag der Chor des Nationaltheaters von Island auf ein Konzert vor. Ort des Geschehens ist eine Kirche, die Frikirka am Tjörnin, dem Stadtteich von Reykjavik. Auf dem Programm stehen die Präludie und Fuge in D-Dur für Orgel von Franz Schmidt und die Messe in G-Dur von Franz Schubert. Die Koinzidenz beider Ereignisse ist nicht zufällig. Das Programm für diesen Konzertabend ist ganz bewußt mit von österreichischen Komponisten geschaffener Musik geplant und für den Anlaß der Staatsvertragsverleihung zusammengestellt worden. Der Organisator des Konzertes, der an diesem Abend zugleich als Organist und Dirigent tätig sein wird, ist nämlich geborener Österreicher, seit 1949 aber isländischer Staatsbürger. Mit diesem Konzert erweist er seinem Geburtsland Österreich, das er siebzehn Jahre vorher verlassen mußte und dessen politische Entwicklung mit dem Anschluß an Nazideutschland so schicksalhaft in seine persönliche Lebensgeschichte und die seiner Familie eingegriffen hat, aus der Ferne seine Referenz. Der Dirigent heißt Victor Urbancic. Sein Name ist in der österreichischen Musikgeschichte so gut wie vergessen, sein Lebensschicksal, wie im Fall vieler anderer Emigranten, einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt. Ungewöhnlich ist die Wahl des Exillandes: Island. Am 9. August 2003 jährt sich sein Geburtstag zum hundertsten Mal. Victor von Urbantschitsch (in der Folge wird die slowenische Schreibweise Urbancic verwendet) wurde am 9. August 1903 als Sohn einer Wiener Arztfamilie geboren. Die Familie stammte ursprünglich aus Preddvor (Höflein) in Slowenien, lebte aber schon seit zwei Generationen in Wien. Sein Vater Ernst war Ohrenarzt, ein Onkel, Rudolf Urbantschitsch, arbeitete als Psychiater und betätigte sich auch als Schriftsteller. Schon der Großvater Victor Urbantschitsch war ein bekannter Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. Er gilt als Mitbegründer der modernen Ohrenheilkunde.' Victor war der älteste von drei Buben, von denen einer schon als Kleinkind verstarb. Der Bruder Erich studierte Jus und war in den Nachkriegsjahrzehnten als Rechtsanwalt in Wien tätig. Im Elternhaus erfuhr Victor Urbancic seine erste musikalische Prägung, der Vater spielte Cello, die Mutter Klavier. Früh lernte er Klavier und Orgel und unternahm erste kompositorische Versuche. Aus einer von ihm selbst in späteren Jahren auf Island erstellten Werkliste ist ersichtlich, daß beinahe die Hälfte aller Kompositionen bis zu seinem 20. Lebensjahr entstanden sind, darunter etwa eine Sonatine für Klavier, die später bei Doblinger erschien. Zweifellos war Urbancic mit einer besonderen musikalischen Grundbegabung ausgestattet, die er schon in jungen Jahren durch eine umfassende musikalische und theoretische Ausbildung zu festigen verstand. Er ergriff jede Möglichkeit, sich profund und vielseitig in Theorie und Praxis zu bilden. Bereits mit zweiundzwanzig Jahren promovierte er bei Guido Adler an der Universität Wien im Fach Musikwissenschaft über die Sonatenform im Werk von Johannes Brahms. Mehrere Jahre lang war Urbancic Schüler der Klavierklasse bei Dr. Paul Weingarten, sechs Jahre lang studierte er Komposition bei Josef Marx. Dirigieren lernte er schließlich unter Dirk Fock und Klemens Krauss an der Hochschule für Musik in Wien, wo er 1926 mit dem Diplom abschloß. Seine ersten musikalischen Erfahrungen in der Praxis erwarb sich Urbancic noch während seines Studiums als Solorepetitor an der Hochschule für Musik und als Kapellmeister für Schauspielmusik am damals von Max Reinhardt gerade neugeordneten Theater in der Josefstadt. 1926 bekam er dann das erste Auslandsengagement. Das Arbeitspensum Urbancic’ in den folgenden Jahren ist beeindruckend. Unter der Intendanz von Paul Breisach arbeitete er von 1926 bis 1933 am Stadttheater Mainz, zuerst als Solorepetitor und Operettenkapellmeister. Ab 1930 war er auch als Opernkapellmeister tätig und erarbeitete sich dort ein hauptsächlich der Romantik und dem Verismo verpflichtetes Repertoire. Aber auch Opern von Mozart, Richard Strauß und Richard Wagner gehörten zu den Aufgaben des jungen Dirigenten. Parallel zur Arbeit am Stadttheater war Urbancic in Mainz für den dort ansässigen Musikverlag Schott tätig und besorgte Musikauszüge, Orchestrationen und Arrangements aller möglichen Besetzungen für Musik aus mehreren Epochen, auch aus der Moderne. Unter anderem bearbeitete Urbancic damals Musik von Hindemith, Janaéek, Korngold, Kfenek und Martin. 1932 holte ihn der Opernkomponist Hans Gal als Lehrer fiir Klavier, Theorie und der Kapellmeisterschule an die städtische Musikhochschule in Mainz. Die rasant angelaufene Karriere, die auch von vielen erfolgreichen Konzerten als Pianist, Beglei Victor Urbancic am Klavier. Probe am Deutschen Nationaltheater in Mainz (um 1932). Foto: Archiv Sibyl Urbancic 33