ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT
ter und Dirigent geprägt war, fand 1933 mit der Machtergreifung
Hitlers in Deutschland eine jähe Unterbrechung.
Zu diesem Zeitpunkt war Victor von Urbancic bereits mit der
Wienerin Dr. Melitta Grünbaum verheiratet. Melitta Griinbaum
hatte Philosophie studiert und war auch als Schauspielerin und
als Lyrikerin hervorgetreten. Beide kannten einander schon seit
Mitte der 1920er Jahre, Urbancic hatte ihr u.a. eine 1924 ent¬
standene Sonate für Violine und Klavier gewidmet. Melitta
Grünbaum war ihrem Mann nach Mainz gefolgt, 1931 war der
Sohn Peter in Wien, 1932 die Tochter Ruth in Mainz geboren
worden. Aufgrund der jüdischen Abstammung seiner Frau konn¬
te Urbancic nicht länger in Deutschland bleiben und entschloß
sich wie andere Musiker — unter ihnen auch Hans Gal — zur
Rückkehr nach Österreich.
Es folgte ein Intermezzo in Wien. Urbancic unterrichtete kur¬
ze Zeit als Theorielehrer und Leiter der Opernschule an der
Neuen Schule für Musik und Bühnenkunst in Wien und nütz¬
te die Zeit, um die Staatsprüfung für Klavier abzulegen. Außer¬
dem begann er ein neues Studium: Orgel im Konzertfach. Nach
einem Gastdirigat am Nationaltheater in Belgrad wurde Urban¬
cic schließlich 1934 von Hermann von Schmeidel als Lehrer
für Theorie, Klavier und Korrepetition an das Konservatorium
des Musikvereins für Steiermark nach Graz geholt.
In Graz erwarb sich Urbancic in kurzer Zeit Vertrauen und
Ansehen. Bereits ein halbes Jahr nach seiner Anstellung wur¬
de er anläßlich einer Beurlaubung Schmeidels mit der Stellver¬
tretung des Direktors betraut und blieb auch in den folgenden
Jahren in dieser Funktion. Ähnlich wie schon in Mainz konn¬
te Urbancic seine Fähigkeiten binnen weniger Jahre in vielfa¬
chen Funktionen unter Beweis stellen.
Neben der Beschäftigung am Konservatorium war er an der
Universität Graz als Lektor für Musikwissenschaft tätig. Ab
Herbst 1935 wurde er dort stellvertretender Leiter des musik¬
historischen Institutes sowie Dirigent des Akademischen Orche¬
sters.
Trotz der vielfältigen Aufgaben in Graz absolvierte Urbancic
im Jahr 1936 zusätzlich die Staatsprüfung für Orgel (Lehrfach)
an der Hochschule in Wien, was wiederum eine Ausdehnung sei¬
ner Lehrtätigkeit zur Folge hatte: Zu Klavier, Musiktheorie, Kom¬
position und der Leitung der Abteilung für Dramatische Kunst
kamen nun der Orgelunterricht sowie der Unterricht in der Ka¬
pellmeisterschule. Ein beeindruckendes Arbeitsprogramm, das
noch von zahlreichen Konzertverpflichtungen als Organist, Pia¬
nist, Dirigent und Vortragender ergänzt wurde. So war Urbancic
1937 Mitwirkender bei Aufführungen von Bachs Weihnachts¬
oratorium sowie der Johannespassion, eine Erfahrung, die für
seine späteren Aufgaben in Island bedeutsam werden sollte.
Bereits seit der Neuordnung 1934 waren am Konservatorium
in Graz sogenannte „Offene Singstunden‘ abgehalten worden,
die sich in den darauffolgenden Jahren zunehmenden Publi¬
kumszuspruchs erfreuten. Erst in der Zeit nach der Macht¬
ergreifung wurde der wahre Charakter dieser „Offenen Sing¬
stunden“ sichtbar. Sie waren von jeher der Treffpunkt im Unter¬
grund agierender illegaler Nationalsozialisten gewesen, in ei¬
ner Tarnung, die bis zum 13. März 1938 „nahezu perfekt funk¬
tioniert(e)“.” Ursprünglich stammte diese Einrichtung aus der
Jugendmusikbewegung des Kreises um den Musikpädagogen
Fritz Jöde (1887 — 1970), nun allerdings von einer pädagogisch¬
musikalischen Intention gewendet zu einer klar ideologisch völ¬
kisch-nationalsozialistischen Ausprägung.
Lehrer des Konservatoriums, damit Kollegen von Victor von
Urbancic, waren die Hauptprotagonisten dieser illegalen Betä¬
tigung, unter ihnen Ludwig Kelbetz, der Musikreferent der öster¬
reichischen HJ. Kelbetz war im Schuljahr 1935/36 als Leiter der
neugeschaffenen „Abteilung für Laienmusikerziehung“ nach
Graz gekommen. Neben Ludwig Kelbetz waren vor allem des¬
sen Bruder Fritz und der schon genannte Walter Kolneder, der
Musikbeauftragte der SA, treibende Kräfte der illegalen Tätig¬
keit.’
Gedeckt wurden diese Veranstaltungen offensichtlich durch
den Leiter des Konservatoriums, Professor Hermann von
Schmeidel, der als Schirmherr‘ der Veranstaltungen — willent¬
lich oder aus Ahnungslosgkeit? — den Part übernommen hatte,
Behörden mit kalmierenden Informationen zu versorgen.’
Den Initiatoren dieser illegalen Zusammenkünfte ist es of¬
fenbar über lange Zeit gelungen, die Behörden zu täuschen. Ein
Grund dafür, warum die ständestaatlichen Behörden den Geist
dieser Veranstaltungen nicht erkannten, bzw. bewußt nicht er¬
kennen wollten, mag darin zu sehen sein, daß ein Teil der Beam¬
tenschaft damals bereits nationalsozialistisch unterwandert war.®
Die Kantate „Der Frühlingsruf ist uns erklungen“ (1937), zu
der Urbancic die Musik schrieb und der Grazer Dr. Manfred
Kreps den Text beisteuerte, ist im Zusammenhang mit der „Offe¬
nen Singstunde“ entstanden.’ Wie es zu dieser Komposition kam,
ob Urbancic dazu genötigt wurde oder ob die Initiative von ihm
ausging, ist nicht bekannt.‘
Der Einmarsch der Hitlertruppen wurde in der Familie Ur¬
bancic als Schock erlebt. Urbancics Schwiegervater, der Rechts¬
anwalt Alfred Grünbaum aus Wien, starb am 10. April 1938 un¬
ter nicht geklärten Umständen, angeblich an einem Herzinfarkt,
wie den Kindern des Ehepaares Urbanceic von ihren Eltern spä¬
ter mitgeteilt wurde. Für sie sei aber immer klar gewesen, daß
ein Zusammenhang zwischen dem Tod des Großvaters müt¬
terlicherseits und dem Einmarsch der deutschen Truppen be¬
standen habe müsse.’
In den Tagen und Wochen nach der Machtergreifung der
Nationalsozialisten in Österreich kam es zu einer Neustruk¬
turierung am Konservatorium. Ludwig Kelbetz wurde zum kom¬
missarischen Leiter des Konservatoriums des Musikvereins für
Steiermark in Graz bestellt. Die Untergrundtätigkeit hatte ein
Ende, „alle Tarnung, alle Kompromisse, alle Halbheiten (kön¬
nen) fallen“, stellte Kelbetz am 3. April 1938, „am Tage des Füh¬
rerbesuches“ in Graz, fest.'’ Für Victor von Urbancic gab es kei¬
nen Platz mehr.
In einem Brief von Kelbetz an den stellvertretenden Landes¬
kulturleiter Robert Ernst in Wien heißt es unter anderem:
Ausserdem erbitte ich in einer sehr schwierigen Frage Ihren
Rat und Ihre Meinung.
Unser bisheriger stellvertretender Direktor war Dr. Victor v.
Urbantschitsch. Erist ein hervorragender Musiker mit ei¬
ner aussergewöhnlich vielseitigen Verwendbarkeit. Er hat mehr¬
Jährige Kapellmeisterpraxis und leitet unsere Opernschule. Er
ist auch Leiter des Akademischen Orchesters. Er ist ein guter
Organist und ein hervorragender Konzertpianist. Neben den prak¬
tischen Fächern gibt er bei uns auch einen Teil des Theorieunter¬
richtes, wie Satzlehre, Formenlehre und Kontrapunkt. Er hat we¬
sentlichen Anteil am Aufbau und an der Gestaltung des Konser¬
vatoriums und der Konzertätigkeit des Musikvereins. Die um¬
fassende illegale Arbeit des Konservatoriums für HJ., SA, PO.,
war ihm bekannt, er hat sich jederzeit korrekt verhalten, und da,