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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT wo wir es gebraucht haben, seine Mitarbeit selbstlos und unaufdringlich zur Verfügung gestellt. Er ist selbst Arier, aber mit einer jüdischen Frau verheiratet. Ich habe in dieser Angelegenheit mit Oskar Fritz in Wien gesprochen, er sagte mir, dass nach den Bestimmungen der Reichsmusikkammer eine weitere Verwendung möglich sei, allerdings nicht in leitenderStellung, wenn in Anbetracht der besonderen charakterlichen, fachlichen und persönlichen Qualitäten ein Antrag an die Reichsmusikkammer gestellt wird. Es ist noch in Betracht zu ziehen, dass an eine Scheidung der Ehe gedacht wird. |... ] Ich bin persönlich der Meinung, dass die Rassengesetze in ihrer vollen Schärfe angewendet werden, dass aber da, wo im Gesetz Grenzfälle aufgezeigt sind, sie so weit wie möglich in Anwendung gebracht werden. Denn es handelt sich ja darum, in dieser Generation die Rassenfrage in Ordnung zu bringen, in der nächsten Generation sind ja Vermischungen ausgeschlossen.'' Zum Zeitpunkt dieses Briefes hatte sich Urbancic bereits entschlossen, Osterreich zu verlassen. Ein Versuch, eine Stelle in den USA zu erlangen, fruchtete nichts, auf eine Ausschreibung eines Schweizer Radioorchesters gab es eine Absage fiir den Nichtschweizer Urbancic. Ein Mitarbeiter am Konservatorium, Dr. Johannes Wlach, machte schließlich den Vorschlag, Urbancic solle seine Stelle mit seinem ehemaligen Studienkollegen Franz Mixa tauschen.” Mixa, geboren in Wien, war nach Absolvierung seines Studiums auf Empfehlung eines seiner Lehrer 1929 nach Island eingeladen worden, um dort die musikalische Leitung bei den Feierlichkeiten zur Althingfeier 1930 zu iibernehmen und war dann in Reykjavik geblieben. Mixa gehört zu den Pionieren eines modernen Musiklebens auf Island. Unter anderem war er an der Gründung und dem Aufbau eines Musikkonservatoriums in Reykjavik maßgeblich beteiligt.'” Mit Mixa wurde nun ein Tausch der Dienststellen vereinbart. Urbancic sollte die Stelle in Reykjavik übernehmen. Urbancic verhandelte in Graz für Mixa und erwirkte von Kelbetz die Zusage, daß Mixa unter den wenigen Lehrenden sein werde, die an der zu gründenden staatlichen Hochschule für Musikerziehung festbesoldet übernommen werden würden: „Sie können sich ja vorstellen, wie groß die Bemühungen meiner Kollegen sind, zu den paar ‚Auserwählten’ zu gehören!“'*, so Urbancic in einem Brief an Mixa im Juni 1938. Wie dringend es für Urbancic zu diesem Zeitpunkt war, den Tausch endgültig zu fixieren, mag man an der Tatsache ersehen, daß er am Schluß des Schreibens ausdrücklich noch eine finanzielle Garantieerklärung abgab: Ich habe mir in jahrelanger Zusammenarbeit das Vertrauen der hier maßgebenden Herren erworben wie sie das meine. Dies bietet mir die Gewähr für die mir gegebenen Zusagen, da ich Ihre Interessen für die meinen erklärt habe. Ja ich bin ohne weiteres bereit, Ihnen für die mir zugesagte Summe von 4000 RM Jährlich persönlich gutzustehen. Der Tausch wurde schließlich perfekt gemacht. Mixa übernahm einen Großteil der Stunden von Urbancic am Konservatorium und an der Universität in Graz. Nun war der Weg frei für Urbancic. Er beschloß, vorerst alleine nach Island zu reisen, um die Lage zu sondieren, eine Wohnung zu suchen und die Familie später nachzuholen. Urbaneics Frau Melitta trat im Juni 1938 aus der jüdischen Gemeinde in Graz aus’, um sich auf die Konversion in die römisch katholische Kirche vorzubereiten. Sie hatte diesen Schritt nicht nur wegen der politischen Lage sondern offenbar ihrer (ORPHEUS TRUST Kinder und ihres Mannes wegen schon linger geplant.'7 Am 27. Juli suchte sie beim Pfarramt St. Peter bei Graz um Aufnahme in der katholischen Kirche an. Nur einen Tag später war das Ansuchen positiv erledigt, am 31. Juli 1938 wurde sie getauft und mit Viktor Urbaneic vor zwei zufällig anwesenden Zeugen kirchlich verheiratet. Der Umstand, daß das formelle Procedere von Konversion und Trauung so rasch abgewickelt wurde und die kirchliche Zeremonie im Stillen stattgefunden hat, läßt den Schluß zu, daß größte Eile zu diesem Schritt geboten war. Am 22. August 1938 kam Urbancic per Schiff nach Island. Einen Monat später folgte ihm seine Frau Melitta mit den Kindern Peter, Ruth und Sibyl (geb. 1937) nach Reykjavik, die Situation in Graz war zu gefährlich geworden. Die Familie übernahm zunächst die Mietwohnung, die auch Franz Mixa bewohnt hatte, in der Hverfisgata in der Reykjaviker Altstadt, wenige Gehminuten vom Hafen entfernt. Bald nach seiner Ankunft auf der Insel begann Urbancic mit seiner Unterrichtstätigkeit an der Musikschule von Reykjavik, die finanziell und organisatorisch der isländischen Musikgesellschaft unterstellt war, einem Verein, der aus einer Gruppe von zwölf prominenten Persönlichkeiten bestand („zwölf Apostel“ genannt). Der Verein hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die musikalische Förderung auf der Insel voranzutreiben. Auf seine Initiative war 1930 die Musikschule gegründet worden. Im Direktor der Musikschule, Päll Isölfsson, der in Leipzig bei Max Reger und Karl Straube Komposition und Orgel studiert hatte, fand Urbancic seinen ersten Ansprechpartner. Unter den Kollegen fanden sich nach und nach auch eine Reihe von Musikern aus Europa, unter ihnen mehrere Österreicher: Die Gei ger Hans Stepanek und Josef Felzmann, die Pianisten Fritz Weishappel und Carl Billich, der Hornist Friedrich Gabler, der Cellist Fritz Fleischmann sowie der Kontrabassist Alfons Summer. Aus Deutschland kamen unter anderen der Cellist Heinz Edelstein und der Dirigent Robert Abraham. Nach dem Krieg, als das isländische Symphonieorchesters gegründet wurde, folgten die Grazer Musiker Paul Pampichler, Hans Ploder und Herbert Hriberschek. Urbancic traf auf eine musikalische Szene, die sich im Aufbau befand. 1922 war ein Blasmusikorchester gegründet worden und in den größeren Hotels spielten regelmäßig Bands zum Tanz auf. Es gab aber kein Berufsorchester, kein Musiktheater, kaum Aktivitäten im Bereich der Chormusik außerhalb der Kirchen, die Tradition, in gemischten Chören zu singen, war nahezu unbekannt. Es gab wenig Möglichkeiten zum Üben und nur ein eingeschränktes Raumangebot für Konzertaufführungen. Dazu kam, daß es durch die exponierte Lage der Insel und während der Kriegsjahre sehr mühevoll war, an gedrucktes Notenmaterial zukommen, weshalb den Dirigenten und Arrangeuren oft nichts anderes übrig blieb, als Orchesterstimmen von Hand zu kopieren oder gar fehlende Stimmen von Grammophonplatten abzuschreiben.' Und der namhafteste Komponist, den Island im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, Jön Leifs, der 1926 als Dirigent mit dem Philharmonischen Orchester Hamburg in Island gastiert hatte, lebte und arbeitete in Deutschland. Jetzt kam Urbancic seine umfassende Ausbildung zugute. Er unterrichtete die Theoriefächer, Klavier, Komposition und Musikgeschichte. Zu seinen Schülern und Studenten zählt praktisch eine ganze Generation von isländischen Komponisten, die ab den späten dreißiger bis in die fünfziger Jahre mit dem Kompositionsstudium begann: Dazu gehören der junge Jön Nordal, 35