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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Sprache aufzuführen, konnte Urbancic nicht mehr in die Tat umsetzen. Welche einmalige Leistung ihm mit der Johannespassion gelungen ist, mag man daraus ersehen, daß seither nie mehr eine ganze Passion auf Isländisch aufgeführt wurde. Für diese Aufführung wurde Victor Urbancic 1944 eine hohe staatliche Auszeichnung, das Ritterkreuz des isländischen Falkenordens, verliehen.?' Neben seiner beruflichen Tätigkeit an der Musikschule war Urbancic ehrenamtlich als Organist und Chorleiter an der Christkirche/Landakot der zahlenmäßig kleinen katholischen Gemeinde in Reykjavik tätig. Nach seinen Plänen baute die dänische Firma Frobenius 1950 die erste mechanische Orgel auf Island. Für die katholische Gemeinde entstand auch eines der wenigen Werke, die Urbancic auf Island geschaffen hat, eine kleine Messe für drei Stimmen, die der Komponist speziell auf die eher begrenzten Möglichkeiten des Chores abgestimmt hatte. Ursprünglich hatte die Familie Urbancic wohl mit einem kurzen Krieg und mit einer baldigen Rückkehr nach Österreich gerechnet. Mit Fortdauer des Krieges allerdings wurde klar, daß man sich auf einen längeren Aufenthalt in Island einzustellen hatte. Dr. Melitta Urbancic war der Wechsel nach Reykjavik viel schwerer gefallen als ihrem Mann, der rasch berufliche Erfolge feiern hatte können. Sie unterstützte ihren Mann nach Kräften, war aber auch selbst beruflich aktiv und unterrichtete an einer Sprachschule (und kurz auch am Gymnasium) Englisch, Französisch und Deutsch und gab Privatstunden. Sie kümmerte sich um die Erziehung und Ausbildung der Kinder (1945 kam mit Eirika die jüngste Tochter zur Welt), und legte Wert darauf, daß diese weiterhin Deutsch lernten; in der Familie wurde deshalb ausschließlich Deutsch gesprochen. Die Kinder besuchten die regulären isländischen Schulen. Melitta Urbancic betätigte sich auch in Island als Lyrikerin (Victor Urbancic hat mehrere ihrer Gedichte vertont) und begann später als Bildhauerin zu modellieren; Arbeiten von ihr stehen noch heute in einigen öffentlichen Gebäuden von Reykjavik. Auf ihre Initiative gehen auch die ersten Versuche zurück, Bienen auf Island zu züchten. Über Jahrzehnte hielt sie Kontakt mit ihrer in Wien lebenden Jugendfreundin, der Schriftstellerin Erika Mitterer. Zeitlebens verfolgte Melitta Urbancic mit höchstem Interesse die politische Entwicklung insbesondere der Sozialdemokratie in Österreich, eine Zeitlang verfaßte sie auch Beiträge für die ArbeiterZeitung in Wien. Besonders tragisch für sie war die Tatsache, daß es ihr trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen war, ihrer in Wien zurückgebliebenen Mutter die Ausreise via Dänemark nach Island (Island war erst 1944 selbständige Republik geworden) zu ermöglichen. Aus heute vorliegenden Dokumenten geht hervor, daß sowohl die dänischen als auch die isländischen Behörden ihre Einreise verhinderten. Melittas Mutter, IIma Grünbaum, geb. Mauthner, mußte Ende 1938 ihre Wohnung in der Elisabethstraße verlassen und wurde fast erblindet in das Rothschildspital eingewiesen. Sie wurde später nach Theresienstadt deportiert wurde, wo sie 1943 starb. Ihr Name ist im Totenbuch von Theresienstadt verzeichnet.” Die Familie entschloß sich, nach dem Krieg auf Island zu bleiben. Am Stadtrand (Kambsvegur) wurde ein kleines Haus gekauft. 1949, elf Jahre nach seiner Ankunft in Island, wurde Victor Urbancice schließlich isländischer Staatbürger. In der Zwischenzeit begannen sich erste Konflikte abzuzeichnen. Als Jön Pörarinsson, Urbancic’ ehemaliger Schüler, 1947 aus den USA zurückkehrte, war Islands musikalische Landschaft in einer Veränderung begriffen. Pörarinsson sollte nach den Vorstellungen der Musikgesellschaft in der musikalischen Szene Islands fortan eine führende und mächtige Rolle spielen. Er wurde zu einem der stärksten Mentoren für die Gründung eines Symphonieorchesters, dessen erster Vorsitzender er 1950 wurde. Außerdem wurde er Leiter der Musikabteilung im Nationalen Rundfunk und Leiter der Theorieabteilung an der Musikschule. Pörarinsson hatte mit Beginn des Schuljahres 1947/48 auf Anweisung des Direktors Päll Isölfsson alle Schüler in Tonsatz übernommen, ohne daß Urbancic, der dieses Fach bis dahin unterrichtet hatte, darüber informiert worden war. Auf einen Schlag war er alle seine Theorieschüler los und durfte im Widerspruch zu seinem Vertrag nur mehr Klavier unterrichten. Urbancic unterrichtete daraufhin eine Reihe von Tonsatzschülern außerhalb der Schule. Längere Zeit sah Urbancic über die Kränkung, daß ihm ein ehemaliger Schüler vorgezogen worden war, nobel hinweg. 1952, bei einem neuerlichen Konflikt, platzte ihm aber der Kragen. Ein Brief vom 9. Mai 1952 dokumentiert die heftige Auseinandersetzung mit dem Vorsitzenden des Musikvereins, Ragnar Jönsson i Smära. In ihm wehrt sich Urbancic gegen jene intriganten Kräfte, die ihn, „den einzigen Mann neben Robert Abraham, der Fachwissen auf diesem Gebiet besitzt“, aus Angelegenheiten des Vorstandes des Musikvereins heraushal37