neuen Lebensmut gibt; der uruguayische Journalist, der eine
Reportage über einen Arbeitslosen schreibt, der seine Niere ver¬
kaufen will, und vom Chefredakteur zurückgepfiffen wird; der
jüdische Flüchtling aus Deutschland, der in Uruguay als Eis¬
verkäufer arbeitet und keinen Weg findet, ein Visum für seine
Eltern zu besorgen, denen in Nazideutschland die Ermordung
droht.
Spätestens die zuletzt erwähnte Geschichte macht klar, dass
Ernesto Kroch in seinen literarischen Texten sehr wohl per¬
sönliche Erfahrungen verarbeitet. Denn dieser Text ist eindeu¬
tig autobiographisch. Wenn der Autor auch nicht als Eisverkäufer
gearbeitet hat, sondern als Metallarbeiter, leidet er unter dem
Trauma, dass er seine Eltern nicht retten konnte und sie in
Nazideutschland ermordet wurden. Ich habe für die Interview¬
Reihe „Lebenswege‘“ der ila mit vielen jüdischen EmigrantInnen
in Lateinamerika über ihr Leben und ihre Fluchtgeschichten ge¬
sprochen und immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich
die inzwischen alten Menschen, die man einst aus Deutschland
verjagt hatte, fast alle schuldig fühlten, weil es ihnen aufgrund
fehlender materieller Mittel oder der Ablehnung der Einwan¬
derungsbehörden, nicht gelungen war, alle bedrohten Ange¬
hörigen nachzuholen und vor der Ermordung zu retten. Die
Gespräche mit ihnen förderten einen bedrückenden Tatbestand
zu Tage, nämlich dass ausgerechnet die Opfer des NS-Terrors
unter Schuldgefühlen leiden und nur unter großen emotiona¬
len Anstrengungen darüber sprechen können, während die Täter¬
generation in Deutschland in ihrer überwältigenden Mehrheit
jene Schuld immer verdrängte oder gar explizit von sich wies.
Ernesto Kroch hat in seiner Erzählung „Integriert?“ darüber
schreiben und seiner damaligen Hilflosigkeit Ausdruck geben
können.
1990 erschienen unter dem Titel „Exil in der Heimat — Heim
ins Exil“ die Lebenserinnerungen Ernesto Krochs. In diesem
Buch erzählt er „seine“ Geschichte: die Kindheit und Jugend
im aufgeklärt jüdischen Elternhaus in Breslau, die prägende
Sozialisation im Jugendbund „Kameraden“, die Lehre, die ihn
mit der für ihn ganz neuen Welt der Arbeiter konfrontierte, nach
der Machtübernahme der Nazis die geheimen Widerstands¬
treffen, die trotz Gefahr nicht frei von Lebenslust und -freude
waren, die Produktion einer Untergrundzeitung, die klandesti¬
nen nächtlichen Plakatklebeaktionen, dann die Verhaftung am
9. November 1934, der Prozess wegen „Vorbereitung zum
Hochverrat“, Gefängnis und KZ, der Aufenthalt in Jugoslawien,
das Ankommen und Einleben in Uruguay, die politischen
Aktivitäten im „Barrio Sur“ von Montevideo, die damit zu¬
sammenhängende permanente Abwesenheit von der Familie, die
schließlich zur Scheidung (und späteren erneuten Heirat der¬
selben Frau) führte, das Leben unter der Diktatur, die zweite
große Liebe, die Flucht aus Uruguay, die Erfahrungen im bun¬
desdeutschen Exil, die Rückkehr nach Montevideo, der Kampf
gegen die Amnestie für die Mörder in Uniform, die Krebser¬
krankung und der Mut zum Weiterleben...
Sein drittes in der Bundesrepublik Deutschland veröffent¬
lichtes Buch war 1991 „Uruguay — zwischen Diktatur und De¬
mokratie“. Es ist eine engagiert geschriebene Geschichte Uru¬
guays von der Kolonialzeit bis zum Ende der achtziger Jahre
des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie stets, wenn er schreibt, woll¬
te er dabei nicht nur darstellen, sondern auch erklären, damit
die Deutschen, konkret die deutschen Linken, verstehen, war¬
um ein einstmals wohlhabendes Land so verarmen konnte, war¬
um ein Staat mit einer weitaus demokratischeren Tradition als
Deutschland von einer brutalen Militärdiktatur beherrscht wer¬
den konnte, und schließlich auch, wie es die UruguayerInnen
mit zähem und mutigem Widerstand vermochten, diese Diktatur
schließlich in die Knie zu zwingen.
Seine ersten literarischen Texte schrieb und veröffentlichte
Ernesto Kroch auf deutsch, seiner ersten Sprache. Nach seiner
Rückkehr aus dem bundesdeutschen Exil begann er in Mon¬
tevideo auch auf spanisch, seiner zweiten Sprache, zu schrei¬
ben. Journalistische Texte hatte er dort schon lange vor der
Diktatur publiziert, vor allem in der Zeitung der Metallar¬
beitergewerkschaft, für die er bis heute gelegentlich schreibt.
1988 publizierte er seine „Crönicas del Barrio Sur“. Im Barrio
Sur, einem alten Stadtviertel unweit des Zentrums Montevideos
hatte er bis zu seiner Flucht über Jahrzehnte politisch gearbei¬
tet. Obwohl er selbst nicht dort lebte, kannte er die Sorgen und
Nöte der Leute, aber auch ihre Lebensfreude und ihren Humor,
sehr genau. Ihnen setzte er mit seinen kleinen — selbstverständlich
sozialkritischen — Geschichten ein literarisches Denkmal.
1993 erschien ein Band mit Erzählungen, der das Pendant
zu „Südamerikanisches Domino“ darstellt: ‚Los Alemanes del
Milagro y los otros“ (Die Deutschen des Wunders und die an¬
deren) enthalt Geschichten tiber die Deutschen. Der Titel meint
auf der einen Seite jene selbstgerechten Repräsentanten des
Wirtschaftswunders, die durch die Kombination von Unter¬
tanengeist und Überlegenheitsdünkel ein unerträgliches
Deutschland verkörpern, und daneben jene „anderen“, die ge¬
gen Krieg und (Neo-)Faschismus und Umweltzerstörung kämp¬
fen, aber auch die, die im reichen Norden sozial und beruflich
ausgegrenzt werden. Wollte er bei „Südamerikanisches Domino“