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die Deutschen über die Lebensbedingungen auf der anderen Seite des Atlantiks aufklären, ging es ihm in „Los Alemanes del Milagro y los otros‘ darum, jene in Südamerika vorherrschenden Klischees über das Konsumparadies Deutschland anzuschreiben. Wie seinerzeit in Deutschland war Ernesto Krochs dritte in Uruguay erschienene Arbeit ein Sachbuch: „Ilusiones, Frustraciones y Esperanzas de la Izquierda“. (1996 — Illusionen, Frustrationen und Hoffnungen der Linken) Das Buch versteht sich als Beitrag zur linken Debatte nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in Osteuropa. Viele Diskussionen, die in der europäischen Linken seit den siebziger und achtziger Jahren geführten wurden, etwa um die Themen „Ökologie“, „Zukunft der Arbeit“, „selbstverwaltete Ökonomie“ oder die Kritik an leninistischen Parteikonzepten, seien in Lateinamerika, zumindest in Uruguay, weitgehend unbekannt. Mit seinem Buch versuchte Kroch, die wichtigsten Argumente dieser Debatten aufzunehmen und die Positionen von einigen wichtigen VertreterInnen wie Rudolf Bahro, Andre Gorz oder Gisela Notz darzustellen. Auf meine Frage, wie dieses Buch in der uruguayischen Linken aufgenommen worden sei und wer sich damit auseinandersetze, meinte Ernesto Kroch, es sei vor allem von ehemaligen KommunistInnen, die sich wie er von der Partei getrennt hätten, rezipiert und diskutiert worden. Sein jüngstes belletristisches Buch ist der Erzählungenband „El Camino a Sisikon“. (2000 — Der Weg von Sisikon) Hier schlägt er ein Kaleidoskop von Themen und Orten auf, die alle als Stationen seines Lebens gelten können. Doch schreibt Kroch in diesem Buch nicht autobiographisch, vielmehr versteht er sich als Chronist, der Verhaltensweisen festhalten und Reaktionsmöglichkeiten erklären will. So entstehen, wie er das Buch im Untertitel nennt, menschliche Geographien. In einer Erzählung denkt er sich in einen jugoslawischen Schweinehirten ein, der erlebt, dass Solidarität bei genügend Wissbegierde am Ende Zugang zu Bildung möglich macht. In der Titelgeschichte spürt er der allmählichen Bewusstwerdung eines Mannes auf dessen Wanderung am Genfer See nach, der seiner Frau so wenig Freiraum ließ, dass sie ein Virginia Woolf’sches Ende nahm. In einem anderen Geschichte stellt er einen US-Bürger zwischen evangelikalem Aberglauben und finanziellem Kalkül vor. Oder er beschreibt die Gedanken eines ehemaligen Soldaten, der zu einer Stelle in den Alpen zurückkehrt, die im Krieg hart umkämpft war und wo viele seiner Kameraden gefallen sind - und die nun ein Touristenziel ist. Danach verfasste er wieder ein Sachbuch, diesmal zum Thema „Globalisierung“. Wie schon bei seinem Buch über die neuen Debatten der Linken, ging es ihm „El desafio de la globalizaciön — {Proceso forzoso o gobernable?“ (2001 — Die Herausforderung der Globalisierung — ein zwangsläufiger oder ein gestaltbarer Prozess?) darum, die internationale globalisierungskritische Debatte in Uruguay zugänglich zu machen. Gleichzeitig untersucht er die Rolle, die einem abhängigen Land wie Uruguay im Prozess der Globalisierung zugewiesen wird, und was er für die Lebensbedingungen der Menschen dort bedeutet. Hier wird Globalisierung konkret. In seiner politischen wie seiner publizistischen Tätigkeit fragt Ernesto Kroch immer, was übergeordnete politischen und wirtschaftliche Entscheidungen für die Leute vor Ort bedeuten. In diesem Sinn ist sein Schreiben — ob es sich um belletristische, essayistische oder journalistische Texte handelt — immer ,,soziale Literatur“. Auch wenn er das nirgends so formuliert hat, ist genau das die Basis seines Schreibens. Und wenn heute Jugendliche in der Anti-Globalisierungsbewegung ATTAC seine vor allem in der ila erscheinenden Texte iiber die uruguayische Erfahrung mit der Privatisierung bei Sozialversicherungssystemen oder von Basisdiensten wie der Wasserversorgung kopieren und zur Diskussionsgrundlage ihrer Gruppen machen, zeigt das, wie nah er weiterhin bei den Themen ist, die politische erwachende Menschen interessieren. Waren alle bisher erschienenen Bücher von ihm ganz bewusst auf jeweils ein Lesepublikum, das deutsche oder das uruguayische, geschrieben, zeigt die Veröffentlichung der spanischen Übersetzung seiner Autobiographie Anfang 2003 in Montevideo, dass zumindest seine Lebensgeschichte Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks interessiert und — dessen bin ich mir sicher — auch faszinieren wird. Ist Ernesto Kroch nun ein deutscher oder ein uruguayischer Autor? Es ist eine Frage, die kaum zu beantworten ist, und letzten Endes ist sie auch müßig. Persönlich hat er sich eindeutig Uruguay als Lebensmittelpunkt gewählt. Da lebt er und da schreibt er. Doch seit er nach 1985 wieder nach Montevideo übersiedelt ist, kommen er und Eva jedes Jahr für einige Monate nach Deutschland — natürlich wenn in Europa Sommer und in Südamerika Winter ist. In den letzten zwölf Jahren hat Ernesto Kroch nur noch Bücher in Uruguay veröffentlicht, mehr Lesungen und Veranstaltungen macht er freilich in Deutschland. Er schreibt überwiegend auf spanisch, doch wenn er die Sprache Cervantes’ spricht, ist auch nach 65 Jahren Uruguay der deutsche Akzent unüberhörbar. Er begann als lateinamerikanischer Flüchtling in Deutschland zu schreiben, gehört aber stilistisch und von seinem literarischen Selbstverständnis her, eher in die Literatur des antifaschistischen deutschen Exils. Seine Geburtsstadt liegt heute in Polen, ein Teil seiner Familie lebt in Israel. Ernst/Ernesto Kroch ist Kosmopolit — und glücklicherweise zwingt ihn heute niemand mehr, sich als Angehöriger einer bestimmten Nation zu betrachten! Buchveröffentlichungen von Ernesto Kroch Deutsch: Südamerikanisches Domino. Erzählungen. Wuppertal 1987 Exil in der Heimat — Heim ins Exil. Erinnerungen aus Europa und Lateinamerika. Franfurt/M. 1990 Uruguay zwischen Diktatur und Demokratie. Frankfurt/M. 1991 Spanisch: Cronicas del Barrio Sur. Montevideo 1988 Los alemanes del Milagro y los Otros. Cuentos. Montevideo 1993 Tlusiones, Frustraciones y Esperanzas de la Izquierda. Montevideo 1996 El Camino a Sisikon. Geografias humanas. Montevideo 2000 El desafio de la globalizacién — ;Proceso forzoso 0 gobernable? Montevideo 2001 Exilio ein la patria — patria en el exilio. Ubersetzung: Alfa Weil. Montevideo 2003 57