OCR
Ein Kabarett im Wien der späten 1960er oder frühen 1970er Jahre; im Publikum lokale Prominenz wie der Schauspieler Dietmar Schönherr und der Filmregisseur Franz Antel. Inhaber des Etablissements und Conférencier ist der nicht mehr ganz junge Kurt Baumann, der mit der um 30 Jahre jiingeren Chansonnette Danny Wieser liiert ist. Kellner, die sich respektlos über Programm und Besucher äußern, schwirren herum, und natürlich gibt es auch ein kleines Ballett. Eine der Tänzerinnen charakterisiert nach der Vorstellung in der Garderobe, wie es um Baumann und das Kabarett überhaupt steht: „Je älter Baumanns Witze werden, desto kürzer werden unsere Röcke.“ So etwa beginnt Tamar Radzyners unveröffentlichtes „Spiel mit Musik“ mit dem Titel „Ein neues Programm“. „Ein neues Programm“ täte tatsächlich not, denn Baumann montiert seit Jahren nur mehr einst erfolgreiche Lachnummern um. Man rät ihm, sich wegen neuer Texte an „den Weigel“ (gemeint ist der Wiener Schriftsteller und Kritiker Hans Weigel, 1908 — 1991, damals auf dem Höhepunkt seines Ruhms) zu wenden, doch dieser ist für Baumann unerreich- und unbezahlbar. Wie gerufen erscheint nun ein unangemeldeter Besucher: Andrzej R6Zewski will Baumann seine Texte zeigen. Andrzej ist Pole, hat „keine weitere Aufenthaltsbewilligung, kein Geld, kein Zimmer, keine Unterstützung“. Er ist zudem Jude und könnte nur mehr nach Israel, weil „das das einzige Land ist, wo man mich ohne Bedenken haben will.“ (S. 12) Die Texte, die er Baumann vorlegt, sind Gedichte von Tamar Radzyner, unter anderen „Die Ameisen‘” (S. 11f.) und „Der Stein“: Das war einmal ein rauher, glitzender Stein. Vom Wasser zart umglitten von kleinen Wellen berührt durch Jahre durch hundert Jahre wurde er zum Sandkorn. Die Tage umschwemmen mich Stunden vergehen berühren mich kleine Sekunden es geschieht nichts nur das Gleiten. Langsam, ohne Gewalt ist es geschehen. Auch ich bin ein Sandkorn.* Andrzej Rözewski ist also, zumindest partiell, mit Tamar Radzyner identisch, die, wie Kurt Baumann gleich durchschaut, „lauter solche Trauersachen“ schreibt (S. 12), die das KabarettPublikum nicht mag. Trotzdem beauftragt Baumann Andrzej, für ihn ein neues Programm zu schreiben, welches sich als ein völliger Mißerfolg erweist. Bei der „Ohrenballade“, in der von der Gewohnheit US-amerikanischer Soldaten berichtet wird, die abgeschnittenen Ohren gefallener Vietnamesen zu sammeln, verlassen die letzten Zuhörer den Saal. (S. 50f.) Pararallel zu die58 ser Parodie auf das Wiener Lachkabarett der 1960er Jahre, dem als Themen nur mehr die Schwiegermütter, der „Liebhaber im Kühlschrank“ und die Steuern bleiben (so das Resümee einer Diskussion über mögliche neue Stoffe, S. 36f.), wird eine zarte Liebesgeschichte zwischen Danny Wieser und Andrzej Rözewski entwickelt. Aber Danny kann sich nicht entschließen, mit Andrzej wegzugehen. In dem Exilpolen Andrzej hat Tamar Radzyner, geboren am am 31. März 1932 in Lodz - ihr Mädchenname Fajwlowicz könnte aus der Polonisierung des jiddischen Namens Fawel entstanden sein, den sie später als Pseudonym gebrauchte — wohl ein wenig sich selber und ihr Schicksal im Nachkriegspolen porträtiert. Andrzejs Vater hieß noch Rosenbaum; Andrzej hat seinen Namen polonisiert. „In Polen“, erklärt er, „sind schöne jüalles, was dort gemacht wurde [...] ... ich war in der Partei. Aus Überzeugung. Aber ... ich wurde hinausgeschmissen als ein zersetzendes, revisionistisches wie auch zionistisches Element. Andererseits ... Ich bin weiter Kommunist.“ (S. 15) Nach einem Studium der Polonistik und Germanistik habe er Kritiken, Reportagen, Gedichte für Zeitungen geschrieben und „genügend“ verdient. Gerade weil er ein ernsthafter polnischer Patriot gewesen sei, habe er einige kritische Artikel über die Zustände veröffentlicht: Im Nu habe er sich auf eine Schwarze Liste gesetzt gefunden und sei schließlich aus der Partei ausgeschlossen worden. Ganz ähnlich dürfte es Tamar Fajwlowicz ergangen sein. Sie begann, vermutlich nach Abschluß ihrer Schulbildung, als Funktionärin des kommunistischen Jugendverbandes (,,Zwiazek Walki Miodych“) in Lodz, war fiir die Jugendzeitung ,,Standar Mlodych* und dann als Vizechefredakteurin von „Do okola Swiata‘ tätig. Daneben studierte sie Polonistik.' Das Zerwürfnis mit der Partei könnte seinen Ausgang von einem von ihr verfaßten, nie aufgeführten Theaterstück über die Kollektivierung in Polen genommen haben. Im Hintergrund allerdings standen die Bemühungen des stalinistischen Machtapparates, die neu entstandenen Volksdemokratien dem russischen Imperium einzugliedern und sich zur Durchsetzung dieses Machtanspruchs u.a. auch des Antisemitismus zu bedienen. „Die Liquidierung der jüdischen Kader“, so George Hermann Hodos, „nahm in Polen ihren Anfang, entsprechende Maßnahmen in der CSR und in Ungarn folgten.“ Obwohl von 3,5 Millionen polnischen Juden über drei Millionen den nationalsozialistischen Massenmördern zum Opfer gefallen waren und von den Überlebenden nach 1945 nur mehr etwa die Hälfte in Polen verblieben war oder - vor allem aus der Sowjetunion — nach Polen zurückkehrte, hatten Juden nach dem Krieg „einen unverhältnismäßig hohen Anteil führender Parteiund Staatsämter inne“.° Dies erklärt sich zwanglos daraus, daß die illegale kommunistische Partei in Polen schon vor dem Krieg einen hohen Anteil von Mitgliedern jüdischer Herkunft hatte.’ Ende 1951 wurden die Parteiorganisationen angewiesen, keine jüdischen Kommunisten mehr in höhere Positionen aufrücken zu lassen.® Erst mit dem Tod Stalins 1953 ebbte diese Welle von Verhaftungen, Folterungen und Hinrichtungen ab, die sich in erster Linie gegen im Sicherheitsapparat tätige jüdische Kommunisten („Kosmopoliten“) richtete. Eine neue Kampagne ge