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Meine Mutter lebte durch meine Haut... Meine Mutter lebte durch meine Haut und schaute durch meine Augen. Ich war voll kalter Verachtung. Mit mir wird das anders! Nicht werde ich, eine sorgende Henne, lebenslang magere Kücken wärmen, habe andere Dinge zu entdecken, Höheres zu erreichen. Ich brauchte ziemlich lange, mußte alles mögliche verstehen, um zu begreifen, daß das Herz der Welt in einer schmutzigen Kinderhand pocht. Heute weiß ich das und habe es begriffen. Nur eines weiß ich nicht: Ist das meine größte Weisheit? Ist das meine größte Niederlage? Dieses und das vorangehende Gedicht stammen aus einem Notizbuch Tamar Radzyners mit handgeschriebenen Gedichten in polnischer Sprache aus der Zeit 1946-47, entstanden in Poznan und Warschau. — Aus dem Polnischen übersetzt von Asia Radzyner und Konstantin Kaiser. Zigeunerballade Durch die polnischen Wälder zogen Wagen vor Jahren, Pferdewagen, die heut niemand kennt, fremde Sprache und Lieder fremdes buntes Gefieder doch die Menschen sie waren nicht fremd. Mit den Karten zum Legen mit den Geigen zum Spielen zogen wandernde Stämme durchs Land, mit den Ziegen und Fohlen die Zigeuner aus Polen die Zigeuner, die keiner verstand. Dann entflammte die Erde die SS nahm die Pferde alles brannte, es gab kein Zuhaus. Nach des Führers Erlaß wurden alle vergast ein paar Tage den Juden voraus. Und es zittern die Saiten zittern Äste und Sterne und der Himmmel von Auschwitz ist weit es sind spurlos verschollen die Zigeuner aus Polen die Zigeuner, die keiner beweint. Zeichnung von Tamar Radzyner die Zigeuner aus Polen die Zigeuner, die keiner erwähnt. Ihr, mit Blut an den Händen mit Blut in den Gedanken kommt ihr einmal nach Polen - gebt acht! In den Wäldern am Abend hört man Wiehern und Traben tausend Geigen der Wind spielt bei Nacht. Die Grenze Man sagt wir kennen uns. Aber ich kenne die anderen nur so wie man ein Haus kennt an dessen Tür man vorübergeht Leben dahinter ahnend ohne es zu begreifen. Sie passsen nicht. Sie öffnen nichts. Gemeinsam horchend hören wir verschieden und mit verschiedenem Geschmack im Mund mit verschiedenen Bildern auf der Netzhaut gehen wir weiter jeder in seine Richtung lauthals versichernd wir kennen uns. Die Worte reichen wir uns wie Schlüssel. 63