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Der Budapester Schriftsteller Imre Kertesz
(geb. 1929) versammelt in seinem jüngsten
Buch chronologisch Aufsätze und Ansprachen,
die er, wie er eingangs betont, auf Verlangen
anderer geschrieben hat. Es handelt sich da¬
bei um Gelegenheitsarbeiten, welche seit der
politischen Wende 1989 in Ungarn entstanden
sind, deren Abschluss die Rede des Autors an¬
lässlich der Verleihung des Nobel-Preises für
Literatur an ihn im Jahr 2002 bildet. In ihnen
wird das Schicksal ihres Verfassers sichtbar,
der den Holocaust und mehrere totalitäre
Regime überlebt hat; gleichzeitig erhellen sie
Kausalzusammenhänge und geben dem Leser
Erklärungsversuche an die Hand, um das
Durchdringungsgeflecht aus Faschismus und
Nationalsozialismus, von Shoa und Vertrei¬
bung, von Sowjetkommunismus und Kaltem
Krieg, kurz: die Tragödie Europas im 20. Jhd.
zu skizzieren, nicht ohne auf eine vorsichtig
optimistische Perspektive für die Zukunft
Europas zu verzichten. Obwohl Kertész eine
Vielzahl gesellschafts- und kulturpolitischer
Aspekte anschneidet, die um Leitbegriffe wie
Heimatlosigkeit, Exil und (innere) Emigration
kreisen, und er dabei die Rolle, Möglichkeiten
und Pflichten des Schriftstellers reflektiert,
wird sehr schnell erkennbar, dass er vornehm¬
lich „über die ethische und kulturelle Be¬
deutung des Holocaust“ sprechen möchte.
Diesen sieht Kertész nicht als ,,.Imperfekt“, son¬
dern als ein mit Brisanz und vor allem Leid ver¬
bundenes Dauerthema, fiir das sich folgende
Situation ergibt: Uber alle weltanschaulichen
Zäsuren und konjunkturellen Umschwünge seit
1945 ist es nämlich im Grunde aktuell ge¬
blieben, wobei im gleichen Atemzug versucht
wurde, diese Aktualität — gerade deswegen? —
zu verleugnen oder zu bagatellisieren. Kertesz
weist auf den widersinnigen Umstand hin, dass
vielerorts über Auschwitz und die nötigen
Konsequenzen gesprochen wird, ohne jedoch
wirklich und aufrichtig darüber zu reden. Er
zeigt jene subversiven Mechanismen auf, wel¬
che die Verständigung über den Holocaust zu¬
nichte machen, ihn dagegen tabuisieren und die
bedrängenden Fakten weich zeichnen. Im Un¬
terschied dazu optiert Kertesz für die erneu¬
te, vor allem auch sich selbst gegenüber scho¬
nungslose Auseinandersetzung mit einem als
Belastung und Zumutung empfundenen
Kainsmal. Es gilt, den Widerwillen und die Ge¬
dankenlosigkeit, die Faulheit des Geistes und
die Trägheit des Herzens zu überwinden.
Deshalb rührt er mit seinen in drei Kapitel —
Free Europe, Wer jetzt kein Haus hat, Die exi¬
lierte Sprache — gegliederten Kommentaren
und Invektiven immer wieder an die schmer¬
zenden Wunde, um sie daran zu hindern, so
einfach zu verheilen und spurlos zu vernarben,
wenn damit bloß — wie zumeist — Externali¬
sierung und Vergessen angestrebt werde. Er
setzt energische Schritte in das „Niemands¬
land“ Auschwitz und nimmt dieses Vakuum,
das er nicht länger dulden möchte, geistig in

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Besitz. Kertesz sieht seine Aufgabe als die des
Gärtners, der die so lange nicht angetastete Öd¬
nis zu bestellen wagt mit dem Ziel, den Schock
und die Paralyse, welche Auschwitz hin¬
terlassen hat, fruchtbringend zu überwinden
und in Kultur aufzulösen. Einem Brükkenbauer
gleich stuft er seine Ausführungen als be¬
helfsmäßige „Krücken“ ein, mittels derer er
Kommunikationsschwierigkeiten und die
streckenweise gänzliche Sprachlosigkeit über¬
winden möchte. Kert&sz versucht, einen Dia¬
log in Gang zu setzen und das mit Mitteln, bei
denen er weiß, dass sie nur leidlich funktio¬
nieren, die aber immerhin so weit tauglich sind,
um gegen das unangebrachte Still- ja Tot¬
schweigen, gegen Beschwichtigung und Weg¬
reden anzukämpfen. Im Wissen darum, sich auf
etwas im Grunde „Unnahbare[s]“ hinzube¬
wegen, lässt Kertesz keinen Zweifel daran, dass
die gründliche und ausnahmslose geistige Be¬
wältigung des Holocaust zunächst die Annah¬
me und Aneignung dieses die abendländische
Zivilisation als ganzes betreffende Phänomen
verlangt, letztlich aber eine Lebensvoraus¬
setzung für Europa bedeutet. Auschwitz müs¬
se „zum universalen Gleichnis“ werden, wel¬
ches „das Zeichen der Unvergänglichkeit trägt;
das in seinem bloßen Namen sowohl die ganze
Welt der nazistischen Konzentrationslager als
auch die allgemeine Erschütterung des Geistes
darüber faßt und dessen ins Mythische erho¬
bener Schauplatz erhalten werden muß, damit
die Pilger ihn aufsuchen können“.

Der Holocaust als Kultur

Kertesz weist wiederholt auf die Schwierigkeit
hin, sich adäquat — und was heißt überhaupt:
adäquat — über den Holocaust zu verständigen,
was für ihn nicht nur ein intellektuell-künst¬
lerisches, sondern ein menschlich-existentia¬
listisches Problem verkörpert. Er konstatiert
einerseits die Fassungslosigkeit bis heute, die
Unfähigkeit, das Geschehen in Worten aus¬
zudrücken oder sich treffend darüber zu arti¬
kulieren, weil der Holocaust keine eigene
Sprache hervorgebracht hat. Andererseits
bemängelt der Autor die Entstellung der Wirk¬
lichkeit und die Beschädigung der Erinnerung
und Pietät durch einen verschleiernd-unprä¬
zisen Sprachgebrauch. Kertesz zieht daraus für
sich die Konsequenz und legt ein an Karl
Kraus erinnerndes rhetorisches Feingefühl an
den Tag, eine ausgewogene Semantik und sen¬
sible Wortwahl, um möglichst eindeutig und
unmissverständlich zu argumentieren. Das hält
er für unerlässlich, sei doch die Aufgabe des
Dichters als des „Gesetzgeber[s] der Welt“
keine geringe, der festlegt, „was und wie et¬
was in den Mythos eingeht, was einen blei¬
benden Platz im Geschichtsfundus einer Zi¬
vilisation erhält, obwohl das so gerne die Ideo¬
logien entscheiden würden.“

Kertesz führt aber auch den fluktuierenden
Kurswert der Sprache innerhalb der postmo¬

dernen Gesellschaft an, die im globalen Zeit¬
alter zu Markte getragen wird und seismo¬
grafisch auf deren Befindlichkeit verweist.
Sprache, das sieht der Autor sehr genau, birgt
in sich eine lebensfeindliche Komponente und
zerstörerische Kraft, die eine Tat initiiert oder
ein Verbrechen vorwegnimmt: Dem verbalen
Akt folgt die physische Vernichtung.
Kertesz spinnt seine Gedanken aber noch wei¬
ter und gelangt zu der Überlegung, ob der
Holocaust mittels Literatur überhaupt vor¬
stellbar ist, ob Dichtung dafür ein geeignetes
Medium sein kann. Er vertraut dabei der
menschlichen Phantasie und „ästhetischen
Einbildungskraft“, mit denen der Einzelne
Auschwitz, „das größte Trauma des europäi¬
schen Menschen seit dem Kreuz“, nachvoll¬
ziehen könne.

Kertesz stellt eine deutliche Diskrepanz zwi¬
schen der Priorität, die das Thema zweifellos
in den Diskursen und im geistigen Austausch
haben müsste, und der tatsächlichen literari¬
schen Produktion fest. Zwar habe Auschwitz
deutliches Interesse und endlich sogar Selbst¬
verständnis bewirkt, dennoch sei es bislang
nicht breitenwirksam geworden. Der Holo¬
caust führt eher ein Schattendasein und hat es
bis jetzt erst die Stufe einer „Subkultur“ er¬
reicht, woraus zu schließen ist, dass er nur ver¬
einzelt als ein „universales Erlebnis“ verstan¬
den wird, als das er eigentlich allgemein re¬
zipiert werden müsste. Stattdessen erfolgt sei¬
ne Einstufung als ein Gegenstand, der ledig¬
lich eine Angelegenheit von Randgruppen und
Minderheiten, v.a. eine innerjüdische Angele¬
genheit darstelle. Reden und Schreiben über
Auschwitz erfolgt auf eine Weise, die ange¬
sichts der Tragweite und des Involviertseins
der westlichen Zivilisation unangemessen ist,
und in einem Ausmaß, das dem Stellenwert des
Themas kaum entspricht. Kertesz fordert ana¬
log zum christlichen Kreuz, das zum Mythos
werden durfte und um welches sich eine prä¬
dominante Kultur entwickeln konnte, Ver¬
gleichbares für den Holocaust. Der soll aus¬
drücklich als ein nicht nur jüdisches Thema,
sondern als eine gemeinsame weltumspan¬
nende Erfahrung memoriert werden, bis er
schließlich, fest verankert — beheimatet - im
Bewusstsein, als ein integraler und als unver¬
zichtbar empfundener Bestandteil für Europa
betrachtet wird. Kertesz verlangt ferner auch
die Anerkennung von Auschwitz als eine für
die Geschichtsschreibung relevante und für die
Zeitrechung zentrale Wendestelle, zumal er mit
der Realisierung dessen, wofür gemeinhin die
„Metapher“ Auschwitz steht, das Ende des
Zeitalters der Logik gekommen sieht, als ei¬
nen Zeitpunkt, an dem der institutionalisier¬
te Mord sie als Weltanschauung ablöste.

Wem gehört Auschwitz?

Kertesz missbilligt das mancherorts erhobe¬
ne exklusive Anrecht auf den Holocaust und