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stands-, Überlebens- und Erinnerungsroman Nekropolis (1967, dt. 2001). Den Ausklang der Studie bildet — quasi als Coda - im vierten Abschnitt eine Auseinandersetzung mit Magris’ Schrift über den Habsburgischen Mythos (1963) in einer „Gegenlicht‘“-Perspektive, d.h. nachfragend, inwiefern Magris hier nicht nur als stimulierender Mythenschöpfer und Mythenstürzer (F. Bondy), sondern auch als Erbe der irredentistischen Generation aufgetreten und jener epochale Text aus der „Besonderheit von Triest“ (453) heraus mit entstanden sei, wie er selbst betonte und sich darin in der Reaktion von Marin bestärkt fand. Die Reaktionen führten trotz einzelner „fruchtbarer Missverständnisse“ zu einer (auch internationalen) höchst erfolgreichen Rezeptionsgeschichte bis in die jüngste Gegenwart, wie Lunzer am Beispiel der expliziten Gegenschrift, Menasses Sozialpartnerschaftliche Ästhetik, darlegt. Wer künftig sich mit Triest und Österreich beschäftigen will, wird an Renate Lunzers Arbeit nicht vorbeikommen. Sie ist fraglos das bislang kenntnisreichste Werk über den Gegenstand und zeichnet sich durch stilistisch-sprachliche Präzision, methodische Kohärenz ebenso aus wie durch die Umsicht, mit der Lunzer ihre Autoren vorstellt. Primus-Heinz Kucher Renate Lunzer: Triest. Eine italienisch-österreichische Dialektik. Klagenfurt/Celovec u.a.: WieserVerlag 2002. 5718. Euro 29,90 Jüdische Frauen in Wien HERSTORY - unter diesem Begriff wird im anglo-amerikanischen Raum jener Teil der Geschichte subsumiert, der sich ausschließlich mit Frauen beschäftigt. Dabei soll der Begriff der Herstory mehr sein als ein kleines Wortspiel oder ein weichgespültes Marketingetikett. Elisabeth Malleier legt nun eine jüdische Herstory vor. Der Untertitel („Wohlfahrt — Mädchenbildung — Frauenarbeit“) liest sich dabei wie ein äußerst verknapptes Resümee. Bei einem derartigen Untertitel weht das Parfüm der allzu starken Vereinfachung. Doch in der historischen Realität, die uns Malleier vorführt, haben auch diese Begriffe ihre Berechtigung. Der Beigeschmack der Reduktion verliert sich. Wohlfahrt, Mädchenbildung und Frauenarbeit sind drei Säulen gesellschaftspolitischer Frauenaktivität von Jüdinnen und Christinnen im Wien des 19. und des 20. Jahrhundert. Die Überblicksdarstellung erstreckt sich über den Zeitraum von 1816 bis 1938. Malleier: Die Geschichte jüdischer Frauen ist aufs Engste mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde und der Emanzipationsgeschichte der Frauen verschränkt. Ein Auseinander82 dividieren von jüdischer und österreichischer Geschichte ist meines Erachtens nicht möglich. (S. 321) Die Autorin versucht mit spezifischem Augemerk auf das Vereinsleben weibliche Strukturen in Wien auszumachen und sie nichtjüdischen beziehungsweise männlich-jüdischen Strukturen gegenüberzustellen. Dabei wird schnell klar, dass jüdische Frauenorganisationen sehr früh gegründet wurden — und von sehr langer Dauer waren. Die jüdische Wohlfahrt wurde bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Frauen für Frauen organisiert, lange bevor die Israelitische Kultusgemeinde zur offiziellen Vertretung wurde. Die Vereine wurden von ihren Gründerinnen oft ein Leben lang betreut und geleitet. Das Werk endete meist mit der Zerschlagung durch die Nationalsozialisten. Malleier untersucht den dynamischen Prozess dieser Strukturen im Vergleich. Die Hauptausrichtungen der jüdischen Frauenvereine sind die Mädchen(aus)bildung mit starkem Akzent auf gewerblicher Ausbildung und die Wohlfahrt. Durch die Ausbreitung der Fakten wird klar, von welcher Wichtigkeit die Vereinsbildung für das (frauen)politische Leben war. Dies ist auch quantitativ belegbar: 16 jüdische Frauenwohltätigkeitsvereine zählen im Jahre 1903 immerhin 5.060 Mitglieder. Ein solcher Verein versteht sich von Anbeginn nicht als komplementär zu der so genannten männlichen Öffentlichkeit und den staatstragenden Institutionen. Im Gegenteil: Die Vereine sind die Plattform für Lobbyismus und Umsetzung von Ideen. Die Vereine sind nicht dem privaten Bereich zuzuordnen, vielmehr untergraben sie die Segmentierung des Gesellschaft in öffentlich-männlich und weiblich-privat. Insofern ist Malleiers Herangehen der Sache angemessen. Obwohl dieser Punkt leider keiner breiteren theoretischen Ausfolgerungen unterliegt, dienen weite Teile des Buches der Exemplifizierung. Von Regine Ullmanns „Mädchen-Unterstützungs-Verein“ — einem der ältesten jüdischen Frauenwohltätigkeitsvereine mit starken Bezügen zur so genannten bürgerlichen Frauenbewegung - bis hin zu Karl Luegers Christlichem Frauenbund, um nur zwei Extreme des Spektrums zu nennen. Der Bedeutungskomplex von Politik, Frauen, Jüdinnen in der Zeit von 1816-1938 impliziert unweigerlich Antifeminismus und Antisemitismus. Anhand des Vereinswesens zeigt Malleier, wie der Antisemitismus und der Antifeminismus über die Vereinsgründungen verbreitet respektive bekämpft wurden. Der Aufbau eines jüdischen Frauennetzwerkes konnte nur bedingt den grassierenden Antisemitismus und der anhalten Frauenfeindlichkeit Einhalt gebieten. Diese Netzwerke - oftmals auch über Familienverbindungen und prominente Salonieres geflochten - sollten im Jahre 1938 mit einem Schlag ein Ende finden. Nicht nur die Diskriminierung als Frau, sondern auch als Jüdin erschwerte vielen Frauen ein selbstständiges Ein- und Auskommen zu erhalten. Ausbildungswege wurden nicht anerkannt oder waren einfach nicht vorhanden und so waren es besonders die galizischen und ungarischen Jüdinnen, die von den Erwerbswegen ausgeschlossen wurden. Antisemitismus und Antifeminismus und die Reaktionen arauf existierten jedoch nicht nur auf der Ebene der Vereine, sondern war Teil der geltenden Gesetzgebung, wie Malleier sehr eindrucksvoll am Beispiel der Zünfte darstellt. Ein bedeutender Teil der Arbeit ist der Mädchenbildung und -erziehung gewidmet. Bildung als Strategie gegen die Ausschlussmechanismen einer androzentristisch-christlichen Gesellschaft. Die Autorin bietet reichliches Material. Überblicksartige Statistiken und aussagekräftige Einzeldarstellung zeichnen einen sich langsam und stetig entwickelnden Bildungs- und Arbeitssektor. Vielfach sind die Mechanismen und die Argumente bis heute dieselben geblieben. Damals mussten Lehrlinge oft für ihre Ausbildung zahlen, um genommen zu werden. Sie wurden als Last und/oder allenfalls als billige Arbeitskraft angesehen. Ein Motiv, das bis heute seine Gültigkeit behalten hat. Ebenso wie das Argument, dass Frauen am Arbeitsmarkt zu Lohndumping führen. Es handelt sich prinzipiell um Stigmata. Das Bild ist passend und ungenau zu gleich. Als Frau, Jüdin und „Nichtösterreicherin“ bedeutete das Leben in der Monarchiemetropole einen ständigen Existenzkampf auch gegen die klerikalen Strukturen und eine weitgehende Kompromissbereitschaft in den eigenen Lebensentwürfen. Es war keine Seltenheit, dass etwa eine gelernte Schneiderin aus Galizien noch lange nicht ihrem Gewerbe nachgehen durfte und nicht wenige Schranken auf ihrem Weg zu überwinden hatte. Wie bei einer Überblicksdarstellung nicht anders zu erwarten, hat Elisabeth Malleier in der Buchausgabe ihrer Dissertation den Themenkreis sehr weit gefachert. Sie versucht die fiir die Frauenbewegung der Jahrhundertwende relevanten Themen mit dem Fokus auf Jiidinnen zu besprechen: Prostitutionsdebatte, Dienstmädchen-,Problematik“ und die verschiedensten Strömungen der Frauenbewegung werden ebenso in das Panoptikum aufgenommen, wie die ersten Frauen an der Universität. (Stichwort: Elise Richter). — Eine Sozialstudie, die einen detaillierten Uberblick bringt. Die Positionen sind im Detail neu. Das Zahlenmaterial ist sehr ausgedehnt. Zur besseren Verwendbarkeit des Buches wäre ein Personenregister zu empfehlen. Dies vielleicht bei einer zweiten Auflage. Thierry Elsen Elisabeth Malleier: Jüdische Frauen in Wien 1816 — 1938. Wohlfahrt - Mädchenbildung — Frauenarbeit. Wien: Mandelbaum 2003. 352 S. Euro 24,90