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... für das vage Später unser Leben hier beschreiben ... E.A. Rheinhardts Gefängnistagebücher „Wir sterben alle unseren eigenen Tod!“ Mit dieser Abwandlung des Rilke-Verses „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not“ aus dem „StundenBuch. Von der Armut und vom Tode“ (1903, Spruch 7) leitet Martin Krist seine Ausführungen über den österreichischen Schriftsteller Emil Alphons Rheinhardt (1889 — 1945) ein und übernimmt so eine Hervorhebung, die E.A. Rheinhardt in seinem Rilke-Buch in Dachau vorgenommen hatte. Damit kennzeichnete Rheinhardt seine Lebenssituation nach jahrelanger Gestapohaft als politischer Gefangener und zeigt die Perspektive auf, aus der seine Aufzeichnungen gelesen werden müssen: aus dem Wissen um das bittere Ende. Die vorliegenden Tagebuchaufzeichnungen aus den Gestapogefängnissen in Südfrankreich beginnen im November 1943 in Menton und werden ab dem 9. Dezember 1943 aus Nizza und ab dem 3. Februar 1944 aus Marseille regelmäßig bis zum 13. April 1944 fortgeführt, um „für das vage Später unser Leben hier (zu) beschreiben, die Zellengefährten ab(zu)konterfeien.“ (S. 7) Sie setzen unvermittelt in der mittleren Phase seiner Inhaftierung ein und brechen ebenso unvermittelt ab. Dieses „vage Später“ erlebte Rheinhardt nicht mehr, aber seine Aufzeichnungen gelangten nach seinem Tod im KZ Dachau auf unbekannten Wegen in die Hände seiner langjährigen, treusorgenden Sekretärin Erica de Behr, die ein Typoskript herstellte, dieses seiner Exfrau Gerty Felice Wolmut übergab, über die es in den 1970er Jahren ins Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien gelangte. Martin Krist hat es nun dem Vergessen entrissen, mit einem Kommentar versehen und ein ausführliches historisch-biographisches Nachwort dazu geschrieben. (Vgl. ZW Nr. 3/2002). E.A. Rheinhardt hatte schon in seinen früheren, expressionistischen Schriften die Enthumanisierung als Folge des Krieges angeprangert: „Aus einer endenden Welt, aus abgewelkten Geltungen, aus Kampf ‚Mensch gegen Mensch’ erheben die neuen Dichter ihre fordernden und klagenden Stimmen. (...) Ethisches Postulat in ihnen ist tiefe Not am Leben, am getanen und erlittenen Bösen. (...) Anklage und Forderung ‚Mit Dir, o Mensch, verwandt zu sein’ ist das innerste Gesetz dieser Dichtung geworden, die aus der gequältesten, einsamsten, verwüstetsten Menschlichkeit wächst.“ (Einleitung zur Anthologie „Die Botschaft. Neue Gedichte aus Österreich“, Wien 1920). Und musste sich dem Unmenschlichen später selbst beugen. Die tägliche Not des Gefangenen spiegelt sich in diesen Tagebuchaufzeichnungen wider. Ganz abgesehen von der Beraubung jeglicher Freiheit ohne die Möglichkeit der Erklärung und Rechtfertigung im Verhör, verwehren die räumliche Enge, Kälte und Unsauberkeit, die Entbehrung ausreichender Nahrung und Hygiene, Schikanen des Wachpersonals, die Abgeschnittenheit von der Außenwelt ein Mindestmaß an menschenwürdigem Leben. Und dies monatelang, jahrelang. Ein Sinn für diese Not will Rheinhardt nicht einleuchten. In den Erinnerungen an früher sucht er Trost. Mit strenger Selbstdisziplin und dem Schreiben kämpft er gegen die Zerstörung seiner Werte und seines Daseins. Aber dies gelingt ihm nur bedingt. Sein Selbstverständnis ist erschüttert. Er sehnt sich danach, „beim eigenen Ich“ zu sein, „wie der Autor es erlebt, wenn plötzlich ein Satz entsteht, in dem er sich völlig angefüllt, mit seinem Eigensten, das er nur hat und erlebt, indem er arbeitet, etwas schafft. Nach diesem Ich-Erlebnis habe ich jetzt in meiner armen Einsamkeit eine schreckliche Sehnsucht nach dem Ich als Kraftquelle (und nicht als Elendsasyl), nach dem Erleben dieses Vorgangs, in dem man selber Schöpfer und Geschöpf, Autor und Werk ist.“ (S. 67/68) Manchmal kommt mit dem Träumen von Freiheit ein Rest Hoffnung auf Befreiung auf. Die Liebe hat in dieser Welt keinen Raum. Selbst die Erinnerung an sie überlebt in dieser Enge nur schwer. Sie bleibt in den Träumen und in der Vergangenheit einer selbstbestimmten Welt. Ein Hauch von liebevoller Zuwendung sind ihm dennoch die Treuebeweise seiner langjährigen Sekretärin Erica de Behr, wenn sie ihm überlebenswichtige Briefe und Päckchen schickt. Ein letzter Kontakt zur Außenwelt. „Ach, wenn ich nur dabei sein könnte und mithelfen, der Welt die Freiheit zu bringen!“ (S. 135) blieb E.A. Rheinhardts großer, unerfüllter Wunsch. Bruni Blum E.A. Rheinhardt: Tagebuch aus den Jahren 1943/44 geschrieben in den Gefängnissen der Gestapo in Menton, Nizza und Les Baumettes (Marseille). Hg. von Martin Krist. Wien: Verlag Turia + Kant 2003. 165 S. Arthur Schnitzlers Stellung zum Judentum Bettina Riedmann hat alle relevanten Stellen in Schnitzlers publizierten Tagebiichern und Briefen zum Thema Judentum zusammengetragen, interpretiert und kontextualisiert. Sie hat damit eine der wichtigsten Studien tiber Arthur Schnitzler geschrieben und eine erstaunliche Forschungslücke zwar nicht ganz, aber doch großteils geschlossen. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist das eines jüdischen Intellektuellen, der eingebunden war in einen jüdischen Bekanntenkreis, „der sich sehr bewußt mit der jüdischen Problematik auseinandersetzte“. Schnitzler beobachtete die Entwicklung des Antisemitismus und die Situation der Juden in Wien zwar sehr aufmerksam, aber sehr subjektiv und selektiv. Obwohl er mit jüdischen Riten und Zeremonien nichts anfangen konnte, führte er regelmäßige und intensive Gespräche mit dem Wiener Oberrabbiner David Feuchtwang und der bekannten Zionistin Erna Patak und nahm interessiert Anteil am Religionsunterricht seiner Kinder. Bei den Wahlen für die Nationalversammlung 1920 wählte er zwar die von Robert Stricker geführte jüdischnationale Partei, stand ansonsten jedoch dem Zionismus sehr ambivalent gegenüber. Nach Herzls Tod verweigerte er ein Gutachten über dessen Tagebücher und mehrere Bitten, öffentlich zu jüdischen Fragen Stellung zu nehmen. Als er dann die Buchausgabe der Tagebücher las, beurteilte er sie als „manische Ausbrüche eines größenwahnsinnigen Feuilletonisten [...] auf dieses Mass von Pose und Eitelkeit war ich nicht gefasst.“ So kommt die Autorin zur Erkenntnis, „daß Schnitzler ... in einen Kreis jüdisch-engagierter bzw. zionistischer Personen integriert war.“ (Eine Tatsache, die genauso oder vielleicht sogar noch mehr auf Richard Beer-Hofmann und Felix Salten zutrifft, wozu es ebenfalls noch keine Darstellungen gibt). In einer Hinsicht ist Riedmanns Buch ergänzungsbedürftig: Die von ihr nicht beachtete Rezeption Schnitzlers in den Wiener jüdischen Zeitungen hätte ebenfalls Schnitzlers Eingebundensein in das jüdische Wien vor der Shoah gezeigt. Sie selbst schreibt in dem Kapitel über Schnitzler und das jüdische Theater bzw. die jiddische Literatur: „Eine genauere Untersuchung der Rezeption durch einen Judaisten oder eine Judaistin wäre wünschenswert.“ Allgemein zeigt Riedmanns Buch am Beispiel Schnitzlers, daß das Phänomen der jüdischen Assimilation sehr viel komplexer und in sich differenzierter war als meist angenommen wird. E.A. Bettina Riedmann: „Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher“. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen. Tübingen: Niemeyer 2002. 475 S. Die Ausgewanderten von W.G. Sebald Wenn Winfried Georg Maximilian Sebald, der sich Max nannte, nicht am 14. Dezember 2001 mit 57 Jahren durch einen Autounfall umgekommen wäre - er selbst lenkte das Auto -, so wäre er nach Meinung der Literaturkritiker ein Anwärter auf den Nobelpreis gewesen. Sein Buch Die Ausgewanderten erregte weltweite Aufmerksamkeit mit den vier Kapiteln über Dr. Henry Selwyn, Paul Bereyter, Ambros Adelwarth und Max Ferber. 83