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Skandalisierung und Medienereignis Lassen Sie mich mit einem kolportierten Zitat beginnen, wie das ja oft bei Diskussionen über das Theater der Fall ist. Es wird Fritz Kortner zugeschrieben, ist auf die jungen Theaterrevolutionäre von 1968 gemünzt und lautet: „Diese Leute wollen gar nicht Revolution machen, sonst wären sie nicht zum Theater gegangen.“ Der Ausspruch ironisiert ein Theater, das als politische Ersatzhandlung fungiert, ein Theater, auf dem mit drohender Gebärde die politische Umwälzung symbolisch vorgeführt wird. Billig wäre es, sich gerade heute von den vielfältigen Formen des politischen Theaters der siebziger Jahre zu distanzieren. Das haben mittlerweile die smarten Theater-Manager und RegieArrangeure der unverbindlichen Attraktion samt ihren journalistischen Mitläufern besorgt. Es geht vielmehr um einen bestimmten Begriff von politischem Theater wie er als einer der vielen Möglichkeiten des Theaters der siebziger Jahre entstand, sich wandelte und schließlich nicht zufällig als scheinbar letzte Möglichkeit übrig blieb. In Österreich war er von 1986 bis 1999 — verbunden mit dem Namen Claus Peymann - am Burgtheater zu studieren und übersiedelte danach in versteinerter Form nach Berlin. Es gab gegenläufige Tendenzen auch, aber die Vereinfachung sei einmal erlaubt: Der Begriff des politischen Theaters wurde hier vielfach als Skandalisierung, Effekt, Provokation, Medienereignis praktiziert. Die eigene Position wurde vorab mit der Rolle des Opfers bestimmt. Das ging einher mit einer Enthistorisierung von Opposition, die demokratischen Traditionen des Theaters konnten nicht als etwas wahrgenommen werden, woran man anknüpfen hätte können. Die eigene Position wurde mehr oder weniger freischwebend einem als reaktionär definierten österreichischen Milieu entgegengesetzt. Es waren hier Poseure des politischen Theaters am Werk. Die angestrebte Verschmelzung der Theaterarbeit mit dem Journalismus macht das evident. Es träfe die Sache nicht, wollte man die Public Relations-Maschinerie der Peymannschen Direktion als mehr oder weniger notwendige Öffentlichkeitsarbeit schen. Das Verhältnis hatte sich vielmehr umgekehrt. Die Frage der medialen Wirkung bestimmte den Gehalt von Theaterarbeit, wodurch das Vorkommen in den Medien notwendigerweise zu etwas Abstraktem geriet: Wichtig wurde allein, dass man vorkam. Die öffentliche Stilisierung der Akteure zu einsamen politischen Kämpfern gegen eine österreichische Misere wurde über den medialen Lärm erzeugt, der sich in Jubel oder Beschimpfung zu teilen schien. Ein dritter Weg, die Kritik an Aufführungen und Spielplänen, wurde in diesem abstrakten Raum der medialen Wirkung von der Direktion bloß als Variante der Beschimpfung aufgefasst oder dargestellt. Diesem Begriff des politischen Theaters möchte ich zunächst einmal eine historische Realität von Theater gegenüberstellen, die man als ein Theater bezeichnen könnte, das die gesellschaftliche Wirklichkeit, ihre Konflikte und Probleme in verdichteter und spezifischer Weise in sich aufnimmt, thematisiert und gestaltet, möglicherweise sogar Ansätze ihrer Lösung in sich enthält. In der Theatergeschichte werden hierfür bekanntlich immer wieder Beispiele angeführt, in der sich solch gesellschaftliches Bewusstsein bei hoher Wirksamkeit des Theaters in einer einmaligen und nicht wiederholbaren Weise findet. Hierzu gehört das Theater der griechischen Antike, namentlich die aischyleische Tragödie — späterhin als Vorbild idealisiert -, die gleichermaßen ein Produkt der Polis wie deren Öffentliche Verhandlung war. Hierzu gehört das Theater Shakespeares mit seiner Verbindung von humanistischer Tradition und Volkstheaterkultur, in der, wie in der Totengräberszene des „Hamlet“ Hohes mit Plebejischem zusammenkam, und die dem mingle-mangle einer Übergangszeit ihren Spiegel vorhielt. Schließlich, als ein österreichisches Beispiel, das Wiener Volkstheater, mit dessen hervorragenden Vertretern, allen voran Johann Nestroy, dem bedeutenden Satiriker und kaum übersetzbaren Philosophen eines Volkstheaters als Welttheater. Die mangelnde Kenntnisnahme des gesellschaftlichen Substrats konnte späterhin bei der Rezeption des Werks der genannten Autoren die Möglichkeiten ihrer Stücke verfehlen und zu Projektionen der Entgesellschaftlichung und Entpolitisierung führen: Erinnert sei die Vorstellung des deutschen Existentialismus von der Antike als dem Ort der ewigen tragischen Geworfenheit des Menschen, ferner an den absurdistisch gedeuteten Shakespeare als Dichter des Rads der Geschichte und der ewigen Schlachten oder an das Genrebild von Nestroy als dem Dichter der bösen Kleinmenschlichkeit. Umgekehrt gibt es jedoch auch genügend Beispiele einer verengten Politisierung der genannten Dramatiker. Solche Verschiebungen, die allerdings oft zu guten Theaterabenden von der Schaubühne, über die Shakespeare Company bis zu linken Nestroy-Inszenierungen geführt haben, sind etwa: Aischylos als Dichter des Friedens, Shakespeare als plebejischer Volksdramatiker, Nestroy als Verkünder der Revolution von 1848. Diese Konstruktionen, die auch mich erwärmt haben und erwärmen, waren mit der Ausblendung von Widersprüchen ebenso verknüpft wie mit der Schimäre eines vermeintlich direkten politischen Willens des jeweiligen Autors. Dabei können die Leser von Karl Marx und Friedrich Engels lernen, dass zwischen der privaten politischen Haltung eines Autors und dessen Werk sehr wohl ein Widerspruch klaffen kann, ja dass die Kenntnis der privaten politische Haltung des Autors kaum den politischen Gehalt des jeweiligen Werkes zu entschlüsseln hilft.' An den Romanen von Balzac hatten Marx und Engels bekanntlich die Differenz zwischen politischer Meinung und treffender literarischer Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse erkannt. Uns heute ist gut bekannt, dass Shakespeare Anhänger des Elisabethanischen Königtums war und Nestroy wohl zumindest zeitweilig mit einer gewissen Berechtigung als politischer Reaktionär bezeichnet werden kann. Auch ist nicht ganz unbekannt, dass die geschäftliche Seite des Theaters ihnen weit mehr bedeuten musste als alle philosophische Betrachtung. Es sei denn, man gesteht der geschäftlichen Betrachtung der Welt eine philosophische Dimension bereits zu.