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Die inhaltlichen und formalen Neuerungen des Dramas, die am Ausgang des 19. Jahrhunderts einsetzten, waren mit der epochalen Neuentdeckung des Menschen verknüpft. Aber es war eine Neuentdeckung, die bereits im Zeichen der modernen Krise des Menschen stand. Die größte Qualität war in der Folge wohl immer dann erreicht, wenn diese Krise im Drama und auf der Bühne weder verdoppelt noch ignoriert wurde. Sondern wenn sie — und das gilt bis heute — bei aller Vielfalt der Formen so gestaltet war, daß in der Versteinerung und der Zerrissenheit, aber auch in der Lächerlichkeit und der Verlogenheit, stets der Mensch sichtbar blieb. Du sollst dem Theater keine Vorschriften machen! So lautet das Gebot an den Wissenschaftler. Aber der Dogmatismus liegt woanders. Dort nämlich, wo „Konsumerismus“ und „Originalitätshascherei“ nachträglich zur neuen Form theoretisiert werden. „Der hat die Nase im Wind“, hörte ich einen Theatergänger anerkennend über einen Regisseur sagen. „Der segelt im Wind“, hätte ich ihm nachrufen wollen. Der bescheidene Vorschlag vom „Menschen-Theater“ ist demgegenüber kein Dogma, sondern erst die Eröffnung eines notwendig unübersichtlichen Feldes der Inhalte und Formen. Das ist nicht die einfachste Lösung, sondern die schwierigste überhaupt. Sie könnte dazu führen, dass man als an gesellschaftlichen Fragen Interessierter das Theater aufgibt, da man den „vereinzelten Einzelnen“ in den „bisher entwickeltsten gesellschaftlichen [...] Verhältnissen“ (Marx) mit seiner Freiheit, einem stummen Zwang der Anmerkungen 1 Vel. z. B. Friedrich Engels an Margaret Harkness, Anfang April 1888. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Bd. 37. Berlin/DDR 1978, S. 42-44. 2 Zur Kritik am Stück vgl. auch Gerhard Scheit: Wiedergutmachungsgesten. Eine Anmerkung zu Thomas Bernhards „Auslöschung“ und „Heldenplatz“ In: MdZ Nr. 3/1998, S. 41f. 3 Vgl. Heldenplatz. Eine Dokumentation. Hg.: Burgtheater. Red.: Dramaturgie. Wien 1989. 4 Vgl. Hermann Beil, Jutta Ferber, Claus Peymann u. Rita Thiele (Hg.): Weltkomödie Österreich. 13 Jahre Burgtheater 1986-1999. Bd. 2. Wien 1999. 5 Der Dramaturg und Literaturwissenschaftler Klaus Völker hatte als Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ das Wort Fritz Kortners vom „Überrumpelungstheater“ auch auf die Theaterkrise der Gegenwart bezogen. Vgl. K. V.: Exmatrikulationsrede des Rektors, 9. Juli 1993. In: ders.: Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Zur Geschichte und Ausbildungspraxis, S. 142. 6 Vgl. Berthold Viertel: Choc-Wirkung im Theater. In: ders.: Die Überwindung des Übermenschen. Exilschriften. (Studienausgabe Bd. 1). Hg. v. Konstantin Kaiser und Peter Roessler in Zusammenarbeit mit Siglinde Bolbecher. Wien 1989, S. 273-275. 7 Leopold Lindtberg: Du weißt ja nicht, wie es in mir schäumt. Schriften, Bilder, Dokumente. Hg. v. Erwin Leiser, Zürich u. St. Gallen 1985, S. 26. Vgl. auch Nicole Metzger: „Alles in Szene setzen, nur sich selber nicht.“ Der Regisseur Leopold Lindtberg. Wien u. Basel 2002, S. 175. 8 Volker Klotz, der ausführlich kritisiert, wie die gegenwärtigen Bühnen „nicht den Text, sondern sich selbst“ missbrauchen, schreibt zu dieser ausgestellten Ohnmacht, den Akzent allerdings weniger auf den durch die Verhältnisse erzeugten Zwang als auf eine Freiwilligkeit der Individuen setzend: „Dank all dem Klang und Licht bleibt ungesagt und im Dunkel, dass wir es selber sind, die diese Machtverhältnisse herbeigeführt, zumindest sie aber nicht behindert haben.“ V. K.: Radikaldramatik. Szenische Vor-Avantgarde: Von Holberg zu Nestroy, von Kleist zu Grabbe. Bielefeld 1996, S. 221. 9 Vgl. z.B. das den Programmheften des Schauspielhauses Hannover beigelegte Heft zur Theaterkrise sowie das Überblicks-Heft zur Spielzeit 2002/2003. Verhältnisse zu gehorchen, nicht mehr als dramatis personae aufzufinden vermag. Vor allem dann, wenn man die bereitliegenden Moden, mit der solche Probleme der Gestaltung übertüncht werden, von sich weist. Es gab und gibt jedoch ein Theater, das sich nicht den Moden subaltern unterwirft, sondern zunächst einmal von Fragen der Realität ausgeht. Es gab und gibt auch ein Theater, das seine Probleme in Verbindung mit Fragen bringt, die das Exiltheater stellte, und die man noch immer als Fragen des Humanismus bezeichnen kann. Die Praxis solchen Theaters in seinen vielfältigen Formen blamiert die Poseure des politischen Theaters ebenso wie die smarten Arrangeure der neuen Ästhetik. Diese sind dann wohl nicht das letzte Kapitel der Theatergeschichte gewesen. Peter Roessler, Univ.-Prof. Dr., lehrt Dramaturgie am Max Reinhardt Seminar, Institut für Schauspiel und Schauspielregie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zuletzt (mit Evelyn Adunka) Herausgeber von „Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exiforschung “ (Wien: Mandelbaum Verlag 2003). Der Beitrag basiert auf einem Vortag vom 4. März 2003, der am Institut für Wissenschaft und Kunst im Rahmen der Veranstaltung „Theater und Gesellschaft“ (Vortragsreihe „Studien zur ArbeiterInnenbewegung“; Leitung: Paul Habr und Peter Ulrich Lehner) gehalten wurde. Eine gekürzte Version wird in der Zeitschrift ,, mitbestimmung “ erscheinen. 10 Vgl. Heiner Müller: Theater ist Krise. Gespräch mit Ute Scharfenberg. In: Joachim Fiebach. Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. (Theater der Zeit, Recherchen 13). Berlin 2003. 11 Vgl. Wider die Krise. Erklärung der Intendantengruppe im Deutschen Bühnenverein zum Erhalt der deutschen Theaterlandschaft. In: Die deutsche Bühne. Theatermagazin, 74. Jg. (2003), H. 7, S. 10. 12 Joachim Fiebach. Manifeste europäischen Theaters a.a.O. Hierin werden die Avantgardebewegungen der 1960er Jahre einem als „Oberflächenrealismus‘ bezeichneten Theaterverständnis entgegengesetzt. Demgegenüber hatte Fiebach in seinem früheren Werk Entwicklungsstränge unter einem marxistischen, in der Neuauflage dann traditionell aufklärerischen Gesichtspunkt betrachtet und einen Zuwachs an „Realismus“ positiv gesehen. 13 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. (Dritte Fassung). In: ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Bd. 1.2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 500f. 14 Ich muss hier alle - im übrigen bestens dokumentierten - historischen Einwände gegen den „Kunstwerk“-Aufsatz übergehen. Vgl. die Dokumentation in Walter Benjamin: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Bd. 1.3 a.a.O., S. 982ff. 15 Vgl. Joachim Fiebach: Manifeste europäischen Theaters a.a.O., S. 343. 16 Ebd. 17 Adolf Dresen: Wer weiß, wo Gott wohnt? Bemerkungen zur Situation unseres Theaters. In: Theater der Zeit, 2001, H. 5, S. 10 18 Ebd., S. 10 u. 11. 19 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke. Bd. 8. Berlin/DDR 1982, S. 116f. 20 Adolf Dresen: Wer weiß, wo Gott wohnt a.a.O., S. 12. 21 Dresen schreibt dazu: „‚Für ein menschliches Theater’ nennt Strehler sein Theaterbuch. In der deutschen Übersetzung des Titels klingt das Wort ‚menschlich‘ hohl, es ist in unserer Sprache zu oft missbraucht worden. Gemeint ist Menschen-Theater, ein nicht-entfremdetes Theater der Nähe. Die Hoffnung liegt, wie immer, unten. Von unten aber kam auch einmal die Avantgarde, als sie wirklich noch eine war.“ Vgl. ebd., S. 12. 22 Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin/DDR 1974, S. 6.