Es war ein merkwiirdiges Spektakel, das im Mai dieses Jahres
am Wiener Heldenplatz tiber die Biihne ging: die ,,Gedenk¬
veranstaltung“ von Letter to the stars, gleichsam der Höhepunkt
einer Veranstaltung, bei der es sich, so die Initiatoren auf ihrer
Homepage, um das „größte schulische Forschungsprojekt zum
Thema Zeitgeschichte in Österreich“ handelte. Präsentiert wur¬
den die Lebensgeschichten einiger Holocaustopfer. Zeitzeugen,
der Bundespräsident, SchülerInnen und Prominente hielten
Ansprachen. Fünfzehntausend Jugendliche und Erwachsene wa¬
ren nicht nur gekommen um zu sehen, wie weiße Luftballons
mit Briefen an die Ermordeten in den Himmel, „to the stars“,
stiegen, sie wollten zugleich auch Konstantin Wecker oder ei¬
nen anderen Star sehen und hören und vielleicht ein Autogramm
ergattern. Denn auch dafür war gesorgt, eine eigene Event¬
Agentur war für dieses Rahmenprogramm engagiert worden.
Ein derartiges zeitgeschichtliches Projekt hat es wahrschein¬
lich noch nie gegeben. Verantwortlich dafür zeichnen die bei¬
den Initiatoren, Josef Neumayer, Autor und Konzeptionist, und
Andreas Kuba, karenzierter Redakteur der Zeitschrift News.
Empirische Grundlage für deren Vorhaben war die vom Doku¬
mentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) ver¬
öffentlichte CD-Rom zur namentlichen Erfassung der öster¬
reichischen Holocaustopfer. Diese Datenbank, die mit einem
unglaublichen Forschungsaufwand hergestellt worden ist und
zur Zeit an die 65.000 Namen - und, sofern eruierbar, die Ge¬
burts-, Sterbe- und Deportationsdaten dazu enthält, diente u.a.
der Historikerkommission für ihre Recherchen.
Von der Datenbank begeistert, entwarfen Neumayer und Kuba
das Projekt: Schülerinnen und Schüler sollten sich auf der CD¬
Rom einen Namen nach persönlichen Kriterien aussuchen, um
danach die entsprechende Lebensgeschichte zu recherchieren.
Das Dokumentationsarchiv erklärte sich zunächst bereit, die
Recherche zu unterstützen, und stellte auch Texte für die Home¬
page zur Verfügung. Die Opfer, so die Initiatoren, würden da¬
durch ein Gesicht erhalten, könnten auf diese Weise ihre Würde
wiedererlangen. Der Werbeaufwand war außergewöhnlich: Ein
eigener Verein wurde gegründet, mächtige Sponsoren sprangen
zur Seite, darunter auch solche, die sich durch die Beschäftigung
von Zwangsarbeitern während des Nationalsozialismus einen
unrühmlichen Ruf erworben hatten. Und natürlich gab es kaum
ein Medium, das nicht davon berichtete.
Was jedoch in der Öffentlichkeit so perfekt inszeniert und
vermarktet wurde, war nicht so einfach in die Praxis umzuset¬
zen; das größte Problem war denn auch, so DÖW Mitarbeiter
Stephan Roth, daß für dieses Projekt kein pädagogisches Konzept
existierte. Wie ihr Vorhaben im Unterricht genau realisiert wer¬
den sollte, darüber zerbrachen sich die Initiatoren nicht den Kopf.
In einem ausführlichen Interview, das Hannah Fröhlich mit den
beiden führte, weist Andreas Kuba allerdings gleich auf eine
Einschränkung des Themas hin: „Bei unserem Projekt geht es
ganz bewußt nicht um Antisemitismus. Das Projekt ist nicht da¬
zu da, Antisemitismus zu bekämpfen. Wir sind nicht gegen et¬
was, sondern für etwas.‘ Und Josef Neumayer ist gar überzeugt,
daß „nur SchülerInnen Holocaustopfern ein würdiges Andenken
verschaffen“ können. „Jedem anderen müßtest du ja was dafür
zahlen.“ Angesichts solcher und ähnlicher ungeheuerlicher
Bemerkungen war es freilich nur von Vorteil, daß die beiden
sich nicht auch noch mit pädagogischen Fragen befaßten. Blieb
es also den Lehrern überlassen, wie sie die Jugendlichen zu die¬
ser Arbeit motivierten, ob und wie sie Lernprozesse und Erfah¬
rungen in Gang brachten.
Liest man einige, von den Schülern verfaßte „Briefe an die
Zukunft“, so wird rasch die Vertracktheit der Aufgabe deutlich,
die man ihnen stellte. Da wurden verschiedene Fakten über die
Ermordeten in Erfahrung gebracht, eifrig historische Daten aus
diversen Archiven zusammengetragen, kurzum alles getan, um,
wie es heißt, „Geschichte erlebbar“ zu machen. Da schreibt et¬
wa eine l4jährige, warum sie sich ausgerechnet Frida Rosen¬
thal aussuchte: „Sie hat am selben Tag wie ich Geburtstag, am
10. Jänner. Deshalb ist sie mir auf irgendeine Art verwandt. So
wird mir noch stärker bewußt, wie schrecklich es ist, daß Men¬
schen wegen ihrer Gesinnung sterben mußten.‘” Und in einem
anderen Brief heißt es: „Es war nicht sehr leicht, mehr über dich
und deine Familie zu erfahren. Aufgrund langer Recherchen ha¬
ben wir dich ein bißchen näher kennen lernen dürfen.‘” Wie
ernsthaft und bemüht auch immer um Nähe und Identifikation
gerungen wurde, sie war kaum herstellbar, war von Anfang an
falsch: konstruierte Empathie. Deshalb wirken viele der Brie¬
fe heillos verkrampft und künstlich: „Wenn wir heutzutage ei¬
nen geliebten Menschen durch Krankheit oder durch einen Un¬
fall verlieren, dann bestatten wir ihn würdig, wir können jederzeit
sein Grab besuchen und er lebt doch in unserer Erinnerung wei¬
ter ... Wir wissen nicht, woran Sie Frau Schönmann gestorben
sind, ob Sie überhaupt bestattet worden sind. Für Ihre Nach¬
kommen wird es schwer sein, mit diesen Unsicherheiten fer¬
tig zu werden.‘ Es war nicht anders zu erwarten: die vorgegebe¬
ne Form, die den Inhalt bestimmt, provozierte gleichsam sol¬
che Ergebnisse. Stellt doch der Brief an ein Holocaustopfer nichts
anderes dar als den Versuch, mit ihm in eine persönliche Be¬
ziehung zu treten. Da sollen also die, die nie in Gefahr geraten
sind, einzig aufgrund ihrer Herkunft verfolgt und ermordet zu
werden, so tun, als stünden sie mit ihren Briefpartnern auf glei¬
cher Stufe, buchstäblich auf du und du, sollen vergleichen, was
niemals verglichen werden kann! Statt sich der Distanz zu den
jüdischen Opfern bewußt zu werden, und sich ihr zu stellen —
was auch bedeutete die Täter beim Namen zu nennen -, wird
einer ganz und gar verlogenen Intimität das Wort geredet, wer¬
den die Ermordeten nachträglich vereinnahmt. Wie gut, daß sie
nicht mehr antworten können!
Indem man sich ausschließlich auf die Opfer konzentriert und
Intimität mit ihnen vortäuscht, geraten die Verfolger erst gar nicht
in den Blick, muß auch Schuld und Verantwortung nicht zur
Sprache gebracht, der Antisemitismus erst gar nicht thematisiert
werden. Das macht das Thema so leicht konsumierbar, und war
vielleicht auch mit ein Grund, weshalb es auf so breite Zu¬
stimmung stieß: „Die Menschen von damals“, schreibt eine
Schülerin, „sahen am Anfang im Nationalsozialismus wohl nur
die positiven Seiten, aber irgendwann holte sie die Wahrheit ins
wirkliche Leben zurück. Wie oft haben sich Menschen an Zeitge¬
nossen geklammert, die ihnen vorgaukelten, ihnen helfen zu wol¬