len? Sie haben alle ihre Versprechungen geglaubt und sind so¬
mit bedingungslos zu ihren Handlangern geworden!“ Wo das
Kollektiv der Mörder anonym bleibt, erscheinen die Täter als
von Hitler und den Nazis verführt, Schuld und Verantwortung
können relativiert werden.
Daß Einzelne immerhin auch nach den Tätern fragten, be¬
legt ein anderer Brief: „Für uns ist es schwer nachzuvollziehen,
daß wirklich niemand gemerkt hat, daß tausende Menschen in
Österreich verschwunden sind. Hat sich kein Mitschüler bzw.
Arbeitnehmer gefragt, wo jüdische MitschülerInnen bzw. Kolle¬
gInnen hingekommen sind? Warum haben LehrerInnen, Schü¬
lerInnen, KollegInnen und Chefs nicht Alarm geschlagen? Die
Abtransporte der jüdischen Mitbürger sind auch nicht nur im
Geheimen abgelaufen!“
Mehr denn je gilt das Diktum Adornos, daß die allererste
Forderung an Erziehung die wäre, daß Auschwitz nicht noch
einmal sei. Auch wenn es heute in Schule und Unterricht im¬
mer komplizierter wird, dem Vergessen und der Wiederholung
entgegenzuarbeiten, so dürfte sich kein Lehrer der Dringlichkeit
dieser Aufgabe entziehen; sich der Vergangenheit zu stellen, be¬
deutete nicht nur sich die gesellschaftlichen Ursachen und
Zusammenhänge, die Auschwitz möglich machten, ins Be¬
wußtsein zu rufen, es bedeutete auch dort anzusetzen, wo es um
die jeweils subjektive Verstricktheit in die Vergangenheit geht:
die Anonymität des Täterkollektivs aufzubrechen, hieße, zual¬
lererst nach der Verantwortung der Eltern und Großeltern fra¬
gen, hieße, dort anzusetzen, wo der Faschismus fortwirkt: in der
eigenen Familie. Was hat der Großvater, die Großmutter während
des Nationalsozialismus getan? Was haben die Großeltern den
Eltern erzählt, wurde überhaupt darüber gesprochen? Was für
Mechanismen sind es, die Menschen fähig machen, Millionen
Juden zu ermorden? In der Konfrontation mit der eigenen bio¬
graphischen Geschichte — und davon dürften freilich auch die
Lehrer nicht ausgenommen sein — könnten irritierende und ver¬
störende Erfahrungen gewonnen werden, Lernprozesse, die zu
kritischer Selbstreflexion anregen — und im besten Fall - zum
Nichtmitmachen befähigen.
Doch statt das Bewußtsein wach zu halten, in einer Gesell¬
schaft und in einem Land zu leben, die Auschwitz hervorgebracht
haben, wurde am Heldenplatz ein Event gefeiert und Luftballons
mit Briefchen in den Himmel geschickt. Was für eine gespen¬
stische Feier! „Letter to the stars“, schreibt Hannah Fröhlich,
„ist ein äußerst geschickter und perfekt vermarkteter Schachzug,
dem kollektiven Verdrängen Vorschub zu leisten, der Relati¬
vierung und Abwehr Tür und Tor zu öffnen. Das macht ‚Letter
to the stars‘ auch so gefahrlich“.* Und vielleicht trifft ja auch
zu, was der DÖW-Mitarbeiter Stephan Roth mutmaßt: daß näm¬
lich Kuba und Neumayer das Projekt deshalb initiierten, weil
„es strategisch und moralisch unantastbar ist, weil das Thema
Konjunktur hat und es sich obendrein gut im Lebenslauf macht.‘®
Letter to the stars aber wurde prolongiert. Die Promotion
dafür begann schon am 5. Mai 2003, dem Tag des Events am
Heldenplatz. Die Werbeeinschaltung in der Zeitschrift profil
macht deutlich, daß dem Mißbrauch der Opfer und ihrer Würde
tatsächlich keine Grenzen gesetzt sind: Das ganzseitig ver¬
größerte, vergilbte und zerknitterte Foto zeigt das Porträt eines
Mädchens, darunter steht in kleingedruckten Buchstaben: „Ilse
Brüll wurde am 31. August 1942 nach Auschwitz deportiert —
man hat sie nie wieder gesehen. 80.000 Menschen aus Öster¬
reich erlebten zwischen 1938 und 1945 das gleiche anonyme
Schicksal. A LETTER TO THE STARS möchte diesen Men¬
schen ihr Gesicht wiedergeben. Mobilkom austria unterstützt
das größte schulische Forschungsprojekt zum Thema Zeit¬
geschichte in Österreich ... Senden Sie ihr SMS TO THE STARS
aus ganz Österreich an ... Für mobilkom austria ist jedes SMS
ein Spendenauftrag: Wir spenden pro SMS 30 Cent für die
Fortführung dieses Projekts. Von unserer Vergangenheit für die
Zukunft lernen: Wir bleiben dran.‘“
1 Hannah Fröhlich: Springtime for Hitler. In: Context XXI (Wien), Nr.2¬
3/2003.
2 Neue Kronen Zeitung (Wien), Sonntag 30. Marz 2003, S. 36.
3 Die folgenden Zitate sind Briefen entnommen, die mir Hannah
Fröhlich freundlicher Weise zur Verfügung stellte.
4 Hannah Fröhlich: Springtime for Hitler, wie oben.
5 Interview mit Stephan Roth, September 2003
6 Profil (Wien) Nr. 19, 5. Mai 2003, S. 85.
Im März 2003 schrieb ich in Reaktion auf die Zusendung ei¬
nes Konvoluts von Formularen an den Nationalfonds der
Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, z.Hd.
Frau Mag. Hannah Lessing, Parlament, A-1017 Wien:
Sehr geehrte Frau Lessing,
Sie haben mir einen Brief und Formulare geschickt, um mich
darauf hinzuweisen, daß auch Erben antragsberechtigt sind.
Zuerst: vielen Dank, es kommt ja nicht alle Tage vor, daß man
auf Quellen der Entschädigung persönlich hingewiesen wird.
Ob ich Ansprüche habe? Soviel ich weiß, haben meine Eltern
bereits die entsprechenden Anträge gestellt. Unsere Familie war
nicht besonders wohlhabend, meine Großmutter väterlicherseits
hatte eine gut gehende Schneiderei, die müßte in Ihren Akten
bereits auftauchen. Ihr Mann war arbeitslos, da gibt es wohl
nichts einzuklagen. Er ist in Jugoslawien umgebracht worden,
der Schaden läßt sich nicht berechnen.
Was die Eltern meiner Mutter hatten, weiß ich nicht, die
Familie gehörte zum ärmlicheren Teil des Kleinbürgertums, man
hat ihnen die Wohnung genommen und sie umgebracht, auch
das läßt sich schlecht umrechnen. Meine Mutter ist inzwischen