recht alt und sicher nicht imstande, noch viel zu recherchieren.
Wo auch - es ist nichts übrig geblieben von ihrer Familie. Ich
nehme an, meine Mutter hat, was sie trotz Alter und Krankheit
noch tun und erklären kann, in Zusammenarbeit mit Ihrer
Behörde getan.
Was also sollte unsereins zustehen?
Ihr Brief hat mich angeregt, darüber nachzudenken. Ich bin
kurz nach, fast könnte man sagen, sofort nach dem Krieg ge¬
boren; meine Eltern haben überlebt, weil sie in der Emigration
in England Unterschlupf gefunden haben. Ich vermute, für den
Ausfall von Ausbildungs- und Karrierechancen gibt es irgend
eine Berechnungsgrundlage. In die Ansprüche meiner Eltern will
ich mich nicht einmischen.
Wofür sollte ich Entschädigung beantragen? Ob die vielen
Therapien berechenbar sind, die mit großer Wahrscheinlichkeit
auf die Traumata zurück gehen, die meine Eltern uns weiter¬
gegeben haben? Und wie ließen sich die Jahre berechnen, die
ich damit vertan habe, dazu gehören zu wollen, zu den „nor¬
malen Leuten“, den richtigen Österreichern, die in der Schule
die Hände zum Beten erhoben und ihre Witze über Juden ge¬
macht haben.
Ach wäre es schön, wenn es einen Fonds gäbe, der mich dafür
entschädigen könnte, daß meine Eltern aus England zurück nach
Österreich gegangen sind. Ich würde gerne einen Antrag stel¬
len, in dem die Wirrungen und Schuldgefühle und Hysterien ge¬
messen und gezählt und die vielen offenen Fragen beantwor¬
tet werden könnten, um „Verluste und Schäden, die als Folge
von oder in Zusammenhang mit Ereignissen auf dem Gebiet der
heutigen Republik Österreich während der Zeit des Nationalso¬
zialismus entstanden sind“ zu benennen.
Ob ich weitere Fragen habe? Ja, ich habe viele weitere Fragen,
die meisten meiner Fragen im Zusammenhang mit Ereignissen
während der Zeit des Nationalsozialismus kann mir niemand
beantworten. Wir wissen so wenig über die Täter, über ihre Taten
und Gedanken, während sie verfolgt oder zugeschaut oder auch
gefoltert und geschossen haben und über ihre Verdrängungen
nach dem Krieg und darüber, wie sich ihre Schuld eingegraben
hat in die österreichische Geschichte der Gegenwart. Ob die
Kinder der Täter auch traumatisiert sind? Haben sie auch im¬
mer wieder Therapeuten aufgesucht oder sind in andere Länder
geflohen? Man sieht ihnen die Neurosen nicht so an, wie un¬
sereinem. Das ist doch komisch. Sind sie normal? Oder wir, die¬
se seltsam verkorkste zweite Generation, die zum Glück so spät
geboren ist, daß sie „nichts mitbekommen“ hat — eine bemer¬
kenswerte Formulierung, nicht wahr? Wir wurden nicht verfolgt,
wir waren nicht in Lagern, ich zumindest bin vom Tag meiner
Geburt an in friedliche Verhältnisse hineingewachsen. Die
Kriege, die ich erlebt habe, sind lächerlich im Vergleich mit den
Erlebnissen meiner Eltern und ihrer Freunde während des Na¬
tionalsozialismus. Die Kriege haben sich nur innen abgespielt,
aber darüber gibt es ja einige Berichte. „Nichts mitbekommen“:
das sind aber auch die Kommoden oder Fotos, die ich in den
Wohnungen meiner Freunde mit einem „jüdischen Blick“ an¬
sehe. Nur für mich und meinesgleichen ist es ungewöhnlich, daß
da Kommoden und Bilder von Groß- und Urgroßeltern in Woh¬
nungen stehen. Man hat sie geerbt, keine großen Wertstücke,
aber in meinen Augen dokumentieren sie eine Kontinuität, die
in Familien, deren Ahnen deportiert und vorher ausgeraubt wur¬
den, nicht existiert.
Entschädigung kommt von Schaden. Ist es ein Schaden, aus
einer Familie zu kommen, die zu den Verfolgten gehört hat?
Heute will ich nicht mehr tauschen mit Gleichaltrigen, die aus
Familien kommen, die zur anderen Seite, zu den Normalen
gehörten.
Und insofern sehe ich keine Chance, als Antragstellerin ir¬
gend etwas einzubringen. Nur diese paar Zeilen, warum immer
nur Anträge stellen - ich schenke sie Ihnen, als Erbin.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Hazel Rosenstrauch
Es dauerte bis zum 12. Juni 2003, daß eine Antwort auf meine
offenbar vom Erwarteten abweichende Zuschrift kam.
Sehr geehrte Frau Dr. Rosenstrauch!
Vielen Dank für Ihren Brief vom März 2003. Ich bitte vielmals
um Entschuldigung, dass ich Ihnen erst jetzt antworte, leider
hat mir unser Sekretariat erst heute den Brief weitergeleitet.
Ich möchte mich zuerst entschuldigen, dass Ihnen wahr¬
scheinlich irrtümlich ein Antragsformular zugeschickt worden
ist. Ihr Vater hatte Sie in seinem Antrag als weitere mögliche
Erbin angegeben. Wahrscheinlich wollte er uns jedoch nur dar¬
über informieren, dass Sie in seinen Antrag eintreten könnten,
sollte ihm vor der Auszahlung etwas zustoßen, was hoffentlich
nicht der Fall sein wird.
Ich bin Ihnen jedoch sehr dankbar, dass Sie diesen Brief ge¬
schrieben haben.
Es ist mir und den anderen Mitarbeitern des Fonds neben der
hoffentlich positiven Bearbeitung der Anträge auch sehr wich¬
tig, so viel wie möglich über die Zeit des Nationalsozialismus
zu lernen und mehr Einblick in die Gefühle der Opfer zu be¬
kommen. Ich glaube, dass solche Briefe, wie der Ihre, jungen
Menschen, die selbst keine Erfahrungen mit dem National¬
sozialismus gemacht haben, sehr helfen können, zu verstehen,
was noch heute in Menschen vorgeht, die unter der national¬
sozialistischen Verfolgunge gelitten haben und noch heute mit
deren Auswirkungen leben müssen, selbst wenn Sie die Zeit
selbst nicht mehr miterlebt haben.
Vielleicht würden diese Erlebnisse, die Sie und bestimmt auch
andere in der Schule oder sonstwo erlebt haben, wo „die rich¬
tigen Österreicher die Hände zum Beten erhoben und ihre Witze
über Juden gemacht haben“ weniger werden, wenn mehr Leute
solche Briefe bekommen würden, wie Sie uns einen geschrie¬
ben haben. Vielleicht aber auch nicht, denn Sie haben recht, auf
solche Fragen bekommt man leider keine Antworten.
Falls Sie dieses Thema wirklich eingehender interessiert und
nicht noch mehr belastet, ist mir da letztens ein Buch aufgefallen,
das von der Tochter eines der „Haupttäter“‘ geschrieben wor¬
den ist, die versucht mit ihren Schuldkomplexen fertig zu wer¬
den. Mir sind nur leider Autorin und Titel entfallen, aber ich
könnte das schnell wieder in Erfahrung bringen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Eltern, dass Sie trotz alldem,
was Sie mitgemacht haben, auch Freude am Leben finden kön¬
nen, auch auf Menschen stoßen, die diese Bezeichnung wirk¬
lich verdienen und vielleicht gerade auch durch das, was man
Ihnen angetan hat, untereinander viel Zusammenhalt finden kön¬
nen.
MMag. Solveig Kaspar (Referentin des Allgemeinen Ent¬
schädigungsfonds)