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Wien, den 20.6.1938. An Dr. Marianne Leichter, Roßauerlände 7-9, 1090 Wien. Liebe, liebe Mummi. Heute habe ich Deine Karte vom 11. bekommen. Ich bin so froh, dass es Dir gut geht. Du brauchst Dir wirklich keine Sorgen um mich zu machen. Du fragst, ob Franzi ins Freie kommt. Aber das ist nicht so wichtig, weil wir ja zusammen Ausflüge machen. Wegen des Ausreisegesuchs wird alles Nötige veranlaßt, sei ganz unbesorgt und hab’ nur Geduld, es geht ja ohnehin alles seinen guten Gang. An Onkel Furrer haben wir uns schon gewendet. Also Du siehst, es wird an nichts vergessen. Der Franzi und ich vertragen uns sehr gut. Ich kann Dir nicht sagen, wie nett er ist. Wir freuen uns so oft wir beisammen sind. Viele liebe Grüße von allen und Pussi von Deinem Heinz. Diese Postkarte wurde von dem damals knapp vierzehnjährigen Heinz Leichter, dem älteren Sohn von Käthe Marianne Zeichnung des damals achtjährigen Franz Leichter 1939 in Paris (im Tagebuch von Otto Leichter). Aus: Österreichbestand der NSBeuteakten im Staatsarchiv Moskau, Bestand 1410, Otto Leichter. Zur Verfügung gestellt von Univ.Doz. Dr. Heinrich Berger, Institut für Wirtschafts-und Sozialgeschichte an der Universität Wien. 12 Leichter, Ende Juni 1938 an seine Mutter in die Untersuchungshaft in der „Liesl“, dem berüchtigen Gefängnis auf der Roßauer Lände, geschickt. Käthe Leichter war seit 30. Mai 1938 in Gestapohaft; gegen sie wurde Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat erhoben.' Die Karte und eine Reihe anderer befanden sich in einem Aktenkonvolut an Beweismaterial im Volksgerichtshofprozeß gegen „Frieda Nödl und andere“, welches ich diesen Sommer im Auftrag der Arbeiterkammer Wien im Bundesarchiv Berlin durchforschte. Nach Wien zurückgekehrt, bestätigten das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und der Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA), dass diese zufällig gefundenen Dokumente neu sind, d.h., der bisherigen Forschung nicht bekannt waren. Sie wurden in der Zeit zwischen Juni und August 1938, also während der ersten Phase von Käthe Leichters Untersuchungshaft, verfaßt. Es ist anzunehmen, dass sie „abgefangen“ worden sind und die Adressatin sie nie zu Gesicht bekommen hat. Obwohl sie größtenteils privater Natur sind und daher das Bild Käthe Leichters in der Forschung nicht gravierend verändern, höchstens vielleicht bescheiden ergänzen, haben sie doch Aufmerksamkeit in der Szene der „Käthe-Leichter-Forscher“ erregt. Käthe Leichter ist ohne Zweifel eine Ikone. Eine Ikone der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung, nicht zuletzt aber auch der Sozialdemokratie. Worin liegt eigentlich das Besondere an Käthe Leichter? Ein Schwerpunkt ihrer für uns heute noch gültigen Faszination liegt zweifellos in ihrer Fähigkeit zur Kommunikation und zum modernen „Teamwork“. Das von ihr in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgebaute „Frauennetzwerk“ umfaßte an die 100 Personen; dazu gehörten unter anderen auch Marie Jahoda und Rosa Jochmann. Dazu ein kurzer Rückblick: Im Juni 1925 beginnt Käthe Leichter, ein Frauenreferat in der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien aufzubauen. Frauenfragen in der Arbeitswelt waren bisher seitens der Gewerkschaften nur ansatzweise in die sozial- und wirtschaftspolitische Diskussion eingeflossen. Während des Ersten Weltkrieges und danach wird aber dieses Thema durch die ständige Zunahme der Frauenarbeit immer aktueller. 1927 erscheint die erste große Untersuchung des AK-Frauenreferats, „Frauenarbeit und Arbeiterinnenschutz in Österreich“, die die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit beleuchtet. Weitere systematische Erhebungen und Berichte zur Erwerbsarbeit von Frauen, etwa „Wie leben die Wiener Heimarbeiter?“ (1928) oder ,,So leben wir... 1320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben“ (1932) folgen. Die bedrückenden Ergebnisse dieser Studien - so mußten beispielsweise zwei Drittel der befragten Hausgehilfinnen täglich länger als 13 (!) Stunden arbeiten — machen eine intensive Öffentlichkeitsarbeit notwendig. 1927 hat Käthe Leichter endlich eine eigene Beilage „Frauenarbeit“ in der Gewerkschaftszeitschrift „Arbeit & Wirtschaft“ durchgesetzt, in der sie ganz bewußt nicht nur Funktionärinnen und Wissenschaftlerinnen, sondern auch ganz „einfache“ Arbei