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Agnes Broessler ist Mitarbeiterin der Abteilung Dokumentation
der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien. - Am 20.11. 2003
wurde das von Agnes Broessler redigierte und eingeleitete Buch
„‚Man ist ja schon zufrieden, wenn man arbeiten kann’. Käthe
Leichter und ihre politische Aktualität“ im Atrium der ÖBV, 1010
Wien, Grillparzerg. 14, präsentiert.

Anmerkungen

1 Käthe Leichter wurde später aus dem Verfahren gegen „Frieda Nödl
und andere“ ausgeschieden, verblieb aber in „ordentlicher Untersu¬

chungshaft* und wurde am 14. Oktober 1939 zusammen mit Pauline
Nestler und Frieda Nödl wegen Kassiberschmuggels vor Gericht ge¬
stellt und zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Am selben Tag wie¬
der der Gestapo überstellt, wurde sie im Jänner 1940 aus der Haft ins
KZ Ravensbrück deportiert. — Vgl. dazu Herbert Steiner: Leben, Werk
und Sterben einer österreichischen Sozialdemokratin. Wien 1997, 180ff.
2. Zitiert in: Herbert Steiner (Hrsg.): Käthe Leichter. Leben und Werk.
Wien: Europaverlag 1973, 76.

3 Rudolfine Muhr: Erinnerungen. In: Die Frau (Wien), 21.2. 1952.
4 Zitiert nach Maria Sporrer, Herbert Steiner: Rosa Jochmann.
Zeitzeugin. Wien: Europaverlag 1983, 46.

Im heißen Wahlkampfherbst des Jahres 1920, wenige Tage vor
der Wahl zur Nationalversammlung am 17. Oktober, lud die
NSDAP-Ortsorganisation St. Pölten auf roten Plakaten mit dem
knalligen Titel Die Revolution zu einer „Öffentlichen Vereins¬
Versammlung“ in den St. Pöltner Stadtsaal:

Darüber, wie die von den Juden begonnene und nach Er¬
reichung ihrer Ziele verratene Revolution in deutschem Geiste
fortgesetzt und beendet werden kann, werden [... ] Adolf Hitler,
München, der Führer der nationalsozialistischen Partei im Deut¬
schen Reiche, und Walter Gattermayer, Wien, Vorsitzender des
Reichsverbandes der nationalen Gewerkschaften Österreichs,
sprechen.

Im deutschnationalen Lokalblatt, der St. Pöltner Deutschen
Volks-Zeitung, wurden am 30. September 1920 zwar andere
Themen, aber dieselben Versammlungsredner angekündigt:

Am 6. Oktober, 8 Uhr abends, spricht im großen Stadtsaal
der Führer der süddeutschen Nationalsozialisten Adolf Hitler
über „die nationalsozialistische Bewegung im Deutschen Reich“.
Hierauf spricht Gewerkschaftsobmann Walter Gattermayer über
„die Wahlen und wir“.

Auf jeden Fall war der rassistische und antisemitische Ungeist
der damaligen Kleinstpartei mitten in der sozialdemokratischen
Hochburg St. Pölten bereits voll entwickelt, auf den Plakaten
hieß es: „Juden und sonstige Nichtdeutsche werden gebeten, der
Versammlung fernzubleiben.“

Kalter Bürgerkrieg

Das Jahr 1920 hatte in der jungen Republik politisch mehr als
desaströs begonnen: Anfang Februar forderte ein Hungeraufstand
in Leoben fünf Tote. Am 7. Juni waren in Graz bei einer Demon¬
stration von Hausfrauen gegen die hohen Lebensmittelpreise
ebenfalls fünf Todesopfer zu beklagen. Am 10. Juni kündigten
die Christlich-Sozialen die Regierungskoalition mit den
Sozialdemokraten auf. Auch nach der Bildung einer Proporz¬
regierung mit allen Parteien am 7. Juli stand die Republik, „die
keiner wollte“, am Rande eines Bürgerkriegs. Gewalt war in der
politischen Auseinandersetzung bereits so alltäglich wie der
Hunger oder das Ersatzbrot aus Maismehl. Bis zur Wahl am 17.
Oktober wurde der Ausdruck „Wahlkampf“ von allen Parteien
ziemlich wörtlich genommen:

14

In Wien-Breitensee tagte eine christlichsoziale Wählerver¬
sammlung, ein halbes Hundert Wehrmänner, wahllos bewaff¬
net, brach ein, ein Schuß fiel - Frauen bluteten. Dem Vorsit¬
zenden, einem Geistlichen, wurde zugejohlt: „Schlagt ihm das
Hirn ein!“

Die Sprengung gegnerischer Wahlversammlungen gehörte
in diesen Tagen durchaus zum politischen Handwerk wie heu¬
te etwa Meinungsumfragen oder Fernsehwerbespots. Daher war
der große St. Pöltner Stadtsaal am Tag der NSDAP-Versamm¬
lung, dem 6. Oktober 1920, auch zum Bersten gefüllt — aller¬
dings nicht ausschließlich mit Nationalsozialisten, die bei der
Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung im Jahr 1919
gerade gezählte 164 St. Pöltner für sich gewinnen konnten.

Neben einem nicht zu großen Häuflein Deutschnationaler und
Gelber waren auch viele Arbeiter und Angestellte gekommen,
die sich die neuesten „Revolutionäre“ ansehen wollten. Da ist
den großmauligen Veranstaltern der Komödie rasch das Herz
in die Hose gefallen und der Herr „Wahlwerber“ Gattermeyer,
der in St. Pölten war, zog es vor, sich — krankheitshalber „ent¬
schuldigen“ zu lassen ...

höhnte die sozialdemokratische St. Pöltner Wochenzeitung
Volkswacht - im nachhinein am 14. Oktober 1920 -, die im übri¬
gen die Nationalsozialisten konsequent als „Gelbe“ titulierte.
Die Volkswacht weiter:

Der Herr Gattermeyer und seine Freunde haben schon ge¬
wußt, warum er so plötzlich „krank“ werden mußte. Sie woll¬
ten eben den gegen diesen „Siegfriedler“ mit Recht erbitterten
Arbeitern und Angestellten keine Gelegenheiten zum Angriff bie¬
ten.

Der erprobte Revolutionär

Als Gegenredner zu Hitler trat in der auf Äußerste gespannten
Atmosphäre des Stadtsaales der sozialdemokratische National¬
ratsabgeordnete Heinrich Schneidmadl auf. Der damals 34jäh¬
rige gelernte Schriftsetzer war nicht nur Vizebürgermeister der
St. Pöltner Nachbargemeinde Wagram-Stattersdorf, sondern als
Chefredakteur der in St. Pölten erscheinenden Volkswacht auch
so etwas wie der Propagandachef der Lokalorganisation der SD¬
AP (Sozialdemokratische Arbeiter-Partei Deutschösterreichs).
Er „war bekannt als Antisemit, und der von ihm repräsentier¬