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te Parteiflügel betrachtete mit Argwohn, was ihm als Überpräsenz jüdischer Intellektueller in den oberen Etagen der SPÖ erschien“, wie Andrei S. Markovits und Anson Rabinbach bemerkten. Oder um es mit den Worten des St. Pöltner SPÖHistorikers Siegfried Nasko zu sagen: Schneidmadl hatte auch von Anfang an nie Berührungsängste mit dem nationalen Lager, eine Haltung, die sich später bis zu Peinlichkeiten, ja Verrat an der Sozialdemokratie entfalten sollte. Was das Versammlungsthema „Revolution“ betraf, war das aufstrebende politische Talent Schneidmadl ein absoluter Praktiker: Als Mitglied eines zwölfköpfigen Nationalrats für den Bezirk St. Pölten, in dem die Sozialdemokraten den Ton angaben und die Musik machten, hatte er gemeinsam mit führenden Parteifreunden der Region wie etwa Hubert Schnofl und Ferdinand Gerdinitsch bei einer Massenversammlung streikender Arbeiter am 30. Oktober 1918, ohne erst besondere Weisungen aus Wien abzuwarten, die Macht in St. Pölten und dessen weitem Umland ergriffen. Dieser Nationalrat bildete auch alsbald einen militärisch-polizeilichen Arm, die Volkswehr, und setzte seine neugewonnene revolutionäre Macht entschlossen durch, wie die christlich-soziale St. Péltner Zeitung zu berichten wußte: Dichtbesetzte Soldatenzüge passierten St. Pölten, wiederholt mußte die Volkswehr gegen excedierende Tschechen oder Ungarn und heimkehrende Kriegsgefangene einschreiten, nicht selten kam es zu ungemütlichen Szenen. Auf der Reichsstraße rast ein Automobil hinter dem anderen, alle werden schließlich angehalten und durchsucht, Waren in großer Menge und aller Art beschlagnahmt. Der unterschätzte Dampfplauderer Adolf Hitler war zum Zeitpunkt der St. Pöltner NSDAP-Versammlung am 6. Oktober 1920 nominell bloß „Propagandaobmann“ dieser Splitterpartei und als Revolutionär ein reiner Theoretiker, noch nicht mehr als ein Dampfplauderer, um es auf gut Österreichisch auszudrücken. Bereits seit 29. September war er als Versammlungsredner in ganz Österreich unterwegs. In der Volkswacht vom 14. Oktober berichtete höchstwahrscheinlich Heinrich Schneidmadl selbst über den Beginn des Duells der beiden Versammlungsredner: Herr Hitler beschränkte sich denn auch — der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb — anstatt der geplanten Hetzrede gegen die Sozialdemokraten einen mehr farblosen Vortrag über den deutschen Friedensvertrag zu halten. Dagegen vermeldete die deutschnationale Sr. Pöltner Deutsche Volks-Zeitung, daß „der Führer der nationalsozialistischen Arbeiter im Deutschen Reiche, Adolf Hitler [...] ungemein sachlich und tiefschürfend den Hungerfrieden von Versailles erläuterte“. „Eine recht nette Taucherei“ Die Volkswacht informierte folgendermaßen über den weiteren Gang der Ereignisse: Mit großem Beifall begrüßt, nahm dann Abgeordneter Genosse Schneidmadl das Wort, der die „großdeutsche“ Politik im allgemeinen und die der Gelben im besondern mit beißendem Spott zerpflückte. Dagegen berichtete die St. Pöltner Deutsche Volks-Zeitung: Nur einige Jungen, die gekommen waren, die Versammlung zu sprengen, verlangten nach eineinhalbstündiger Rede Hitlers Schluß und - Herrn Schneidmadl! In seinen bisher unveröffentlichten Memoiren „In der Ersten und Zweiten Republik“, die aufgrund der Fertigstellung in seinem Todesjahr 1965 durchaus den Charakter einer profanen Beichte haben, berichtete Schneidmadl selbst über das dramatische Ende der Versammlung: Als ich schloß, sprangen einige besonders heißblütige Versammlungsteilnehmer auf das Podium, und es begann eine recht nette Taucherei, in deren Mittelpunkt bald auch Hitler geraten war. Ich fürchtete, daß ein Unbesonnener sich an ihm tätlich vergreifen und so unseren Gegnern einen willkommenen Beweis sozialdemokratischer Unduldsamkeit liefern könnte. Die meisten St. Pöltner Arbeiter verfügten als Weltkriegsveteranen, als Mitglieder der Volkswehr oder von Soldatenräten sowohl über militärische Ausbildung als auch über Waffen. Das nämliche galt für ebenfalls anwesende Christlich-Soziale. Hitlers Leben hätte bei der turbulenten Massenschlägerei im St. Pöltner Stadtsaal durchaus durch einen Schlag, einen Bajonettstich oder einen Schuß ein vorzeitiges Ende finden können. Zumindestens hätte er wohl böse Prügel bezogen — wenn da nicht Heinrich Schneidmadl gewesen wäre: Ich umfaßte daher Hitler, um ihn zu schützen. Als er so in meinen Armen lag, sagte er mir, daß er noch ein paar Worte an seine Anhänger richten möchte. In dieser bedrängten Lage blieb Hitler natürlich nichts anders übrig, als zu kapitulieren und sich wie ein geprügelter Hund davonzustehlen. Der Sieger auf der Walstatt, Heinrich Schneidmadl, sah das auch so: Als es mir gelungen war, die Ruhe wieder einigermaßen herzustellen, trat Hitler vor und forderte seine Anhänger auf, mit ihm den Saal zu verlassen. Diese Rede, die kürzeste seines Le15