OCR
im Zug, wird zuerst von den aussteigenden Reisenden zur Seite geschoben, dann von den Einsteigenden in den Gang zurückgedrängt, wird nicht wahrgenommen, niemand hilft mit dem Gepäck und meine Tochter muss vom bereits anfahrenden Zug springen, um in Linz anzukommen. Ringsum leere Blicke und ein Kommentar: „Das Kind muss sagen, dass es aussteigen will und nicht herumstehen.“ „Scheiß Land“ denke ich mir, wenn mir bewusst wird, dass in „meiner“ Heimat ein beträchtlicher Teil der Wirklichkeit ausgeblendet bleibt. Für ORF-Gebühren und Abo-Kosten gibt es nur die Gewissheit, dass Nachrichten und Zusammenhänge vorenthalten werden. Der Versuch, Gegenöffentlichkeit zu schaffen, wird durch geschmalzene Portokosten, Streichung von Subventionen und juristische Schikanen immer wieder aufs Neue verhindert. Heimat ist keine virtuelle Angelegenheit und der Sehnsuchtsort der inneren Welt verlangt nach einer realen Andockstelle in der äußeren — und nach Umsetzung. Einsatz ist notwendig, um den Traum in die Wirklichkeit zu bringen. Rückschläge sind einzukalkulieren. Bei Gefühlen des Stillstandes hilft die Vorstellung an den venezianischen Campo Bandiera e Moro im Sestiere Castello. Der Platz ist überschaubar, drei Bäume, zwei Zisternen, vier Bänke, eine Kirche, zwei Palazzi, Wohnhäuser, eine Drogerie, ein Altwarengeschäft. Der Campo ist ruhig. Die Intensität menschlicher Stimmen, der Klang menschlicher Schritte und der Kirchenglocken geben Auskunft über Zusammenleben, Tagesablauf und Verrichtungen. Ein Morgengespräch zweier ihre Hunde äußern führender Frühaufsteher. Mit Rodeln werden Waren über den Platz geschoben. Die Rollläden vor den Geschäftsauslagen rattern hoch. Klappernde Schritte streben der Arbeit zu, andere verhallen in der Kirche. Grüße, Rufe, Schritte werden langsamer, Wortwechsel. Visuell hat der akustische Ablauf seine Entsprechung in der Aufstellung der Bänke. Am Morgen steht jede Bank in einem anderen Eck des Platzes. Die Frühaufsteher rücken zwei davon auf Hörweite zusammen. Am Nachmittag kommen die Alten. Die Bänke stehen einander eng gegenüber im Schatten. Spielende Kinder erobern den Platz und ihre Eltern stellen die Bänke zu einem Viereck in der Mitte des Campo auf, um den Tag im gemeinsamen Austausch ausklingen zu lassen. Mit Einbruch der Dunkelheit werden die Stimmen leiser, die Gespräche verlangen nach intimerem Rahmen, die Bänke rücken wieder auseinander in die Winkel des Campo. Die Nacht über ist immer wieder zärtliches Lachen zu hören. Beim Gefühl des Rückschrittes hilft auch die Erinnerung an ein Gedicht: Heimkehr des Odysseus. Dies ist das Dach. Die erste Sorge weicht./ Denn aus dem Haus steigt Rauch: es ist bewohnt./ Sie dachten auf dem Schiffe schon: vielleicht/ Ist unverändert hier nur mehr der Mond. (Bertolt Brecht). Sich Heimat zu schaffen, kann auch für Einheimische eine Aufgabe für Generationen sein. Eugenie Kain, geboren 1960 in Linz (Oberösterreich). Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien; Arbeit als Journalistin und im Bereich Training, Beratung und soziale Projekte, Redakteurin bei Radio FRO. 1983 Max von der GrünLiteraturpreis. Publikationen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, ORF und Freien Radios. — Die Redaktion gratuliert Eugenie Kain zu dem von der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich und dem Brucknerhaus Linz gestifteten, mit Euro 10.000 dotierten „Buch.Preis 2003“ für ihren Roman „Atemnot“. Bücher: Sehnsucht nach Tamanrasset (Erzählungen, Linz 1999); Atemnot (Roman, Linz 2001); (Hg.) „Man müßte sich die Zeit nehmen, genauer hinzuschauen“. Franz Kain und der Roman „Auf dem Taubenmarkt“ (Linz 2002). Schon im Jahr 1929 hatte in Deutschland die große Aufhetzung gegen Juden begonnen, geschürt von Goebbels’ Leibblatt Der Angriff. Im Alter von fünf Jahren wußte ich das freilich noch nicht, bis eines Tages ein Herr namens Bratzkoven auf Einladung meiner Eltern zum Nachmittagskaffee kam. Herr Bratzkoven war ein gutaussehender junger Mann; er hatte braune Augen, krause schwarze Haare und einen schwarzen Bart. Seine Nase hätten Rassisten als typisch jüdisch bezeichnet. Zum Anlaß seines Besuches wurde der kleine Tisch, an dem meine Schwester und ich saßen, neben den Tisch der Erwachsenen gestellt, so daß ich den Gegenstand des Gesprächs mitbekam: Herr Bratzkoven klagte meinen Eltern, er sei wegen seines semitischen Aussehens von einer Horde junger Nazis verprügelt worden, obwohl er Arier sei. Meine Mutter warf ein, daß auch Goebbels nicht gerade arisch aussähe. Mein Vater sagte, die Nazis hätten nach Gustav Stresemanns Tod einen politischen Vorsprung gewonnen. 18 Bisher hatte mich mein Äußeres nicht beunruhigt; erst nach Bratzkovens Besuch dämmerte mir die Gefahr, semitisch auszusehen. Zuweilen hatte er mich besorgt angestarrt. Später sagte mir meine Mutter, er habe meine Nase interessant gefunden. Danach betrachtete ich mich lange im Badezimmerspiegel. Im Kontrast zu meiner blonden, blauäugigen, ach so beneidenswert arısch aussehenden Schwester, sah ich mit dunklen krausen Haaren und braunen Augen nichtarisch aus. Die Gefahr, von gewalttätigen Burschen der NSDAP angegriffen zu werden, wenn auch nur wegen eines semitischen Aussehens, verschärfte sich, nachdem meine Eltern 1930 in die moderne Künstlerkolonie, Kreuznacherstraße, Berlin Wilmersdorf, übersiedelten. Die Künstlerkolonie war eine vierstöckige Wohnsiedlung mit Balkonen an der Vorderseite. Hagebuttenhecken und gepflegte Rasenflächen grenzten an den Gehsteig. Als Wohnsitz in