OCR
Francisco Tanzer, Sie haben mir ermöglicht, Einblick in die ersten drei Kapitel Ihres deutschsprachigen Romans „Die Befreiung“ zu nehmen, von dem eine erste Fassung bereits zwischen 1948 und 1951 in New York entstanden ist, und an dem Sie bis heute arbeiten. Hinsichtlich des Protagonisten Stephan heißt es dort ziemlich zu Beginn: „Westbahnhof. Vor sieben Jahren. Die Beleuchtung erschien ihm bedrohlich und jeder Schritt, den er tat, meilenweit hörbar. Die wahllosen Verhaftungen hatten täglich weiter um sich gegriffen.“ Natürlich denkt man dabei an Wien 1938. Wäre es erlaubt, diesen Stephan mit Francisco Tanzer gleichzusetzen? Ja, dieser Stephan ist gewissermaßen identisch mit mir, und so wird in diesem ersten Romankapitel — gemäß meiner Maxime „Man muß sich erinnern, damit man vergessen kann“ — die Problematik der Vergangenheit Stephans thematisiert, also auch meine Vergangenheit. Und nach diesem Eingangskapitel sieht man Stephan agieren, und im letzten Kapitel offenbart er sich dann diesem deutschen Mädchen, das er - wenn man so sagen will - im elften Kapitel kennenlernt und schließlich unsagbar liebt. ... aber damit wären wir bereits am Ende des Romans, dessen Anfang uns gerade zu interessieren begann. Zumindest aus den ersten drei Kapiteln erfährt man — bis auf vereinzelte Kindheits- und Jugenderinnerungen — wenig von Stephan. So diese Figur autobiographisch motiviert ist, möchte ich nun doch konkreter werden: Sie wurden am 12. September 1921 in Wien geboren. Wer waren Ihre Eltern? Wo hat die Familie gelebt? Meine Eltern waren ebenfalls gebürtige Wiener. Der Vater? war im Ersten Weltkrieg Artillerie-Offizier, ein ziemlich tapferer Soldat. Er kämpfte in Rußland, hätte gern den MariaTheresia-Orden erhalten, brachte es aber — um es etwas humorvoller auszudrücken — mit diesem Ansinnen nur bis zur Kriegsgefangenschaft, aus der er flüchtete. Er wurde dann noch einmal an der italienischen Front eingesetzt. Mein Vater war musikalisch äußerst begabt — Bruno Walter’ hat von ihm gesagt, man könne den 2. Satz der „Pathetique“ nicht besser spielen als er —, hat aber aufgrund des Krieges diese Begabung nicht ganz wahrnehmen können und auch später nicht voll ausgeschöpft. Meine Mutter‘ kam aus einem sehr vermögenden Haus, lebte in einem Palais. Mein Großvater mütterlicherseits’ war einer der bedeutendsten Traberzüchter Österreichs. Unmittelbar nach seinem Tod wurde ein Pferd aus seiner Zucht eine österreichische Renn-Legende der Zwischenkriegszeit, was ich hier nur erwähne, weil auch ich später aktiv Trabrennsport betrieben habe. Mein Vater hat dann wirtschaftlichen Schiffbruch erlitten und wurde Sekretär meiner Großmutter mütterlicherseits. Als ich von meiner Geburt an bis zum sechsten Lebensjahr in der Penzinger Str. 16 (damals 13. Bezirk) gelebt habe, war das Leben unserer Familie vom Existenzkampf geprägt, obwohl wir uns noch ein Stubenmädchen leisten konnten. Durch die Position bei meiner Großmutter aber ist mein Vater schließlich — so hieß das — „Generaldirektor“ in Ungarn geworden, Generaldirektor einer Kohlengrube, die der Großmutter, ursprünglich dem Großvater, gehörte. So habe ich mein sechstes bis zehntes Lebensjahr in Budapest verbracht. Meine Mutter wollte auf keinen Fall, daß ich auf eine ungarische Schule gehe, auch nicht in eine ‚reichs20 deutsche’, so daß ich die ersten vier Jahre von einer Privatlehrerin unterrichtet wurde, was mich noch lebensunfähiger gemacht hat, als ich es vermutlich ohnehin schon war. Als ich dann etwa zehnjährig nach Österreich zurückgekommen bin, geriet mein Vater, der in diesen Dingen eine unglückliche Hand besaß, in einige Bankinsolvenzen. Wir wohnten zu dieser Zeit in der PeterJordan-Straße (19. Bezirk), und es ging wirtschaftlich immer schlechter. Als mein Vater sich dann wieder etwas konsolidiert hatte - indem er im „‚Vorwärts‘-Verlag, der aber nicht mehr den Sozialdemokraten, sondern mittlerweile den Christlich-Sozialen gehörte, eine Werbe-Zeitung herausbrachte — kam der ,,Anschluß“. Ich habe dann noch drei Monate in Wien gelebt. Jeder weiß, was das bedeutete, wenn man — wie in meinem Fall — von der Herkunft, nicht von der Religion her unter die Gesetze und Willkür der Nationalsozialisten fiel, worüber ich irgendwo geschrieben habe, daß diese drei Monate drei Jahrzehnten gleichkamen. Ich bin dann zu meinen Onkeln, die eine Textilfabrik in der Nähe von Reichenberg? hatten, von da nach Paris. Und nun auch noch einmal zum Roman zurück, wo beschrieben wird, daß der Protagonist Stephan aus Wien mit einer Rasierklinge flüchtet, mit der er sich im Fall des Scheiterns seiner Flucht umzubringen beabsichtigt. Wie ich bereits anmerkte, ist das erste Kapitel stark autobiographisch, manches freilich verschlüsselt, manches chronologisch versetzt, so auch die Geschichte mit der Rasierklinge, die ich auf der Flucht aus Paris — vier Tage vor dem Einmarsch der Deutschen — bei mir trug und mit der ich mir das Leben nehmen wollte, wenn ich nicht durchgekommen wäre. Aber da war ich nicht allein, sondern mit meinem Vater unterwegs, und übrigens auch — wortwörtlich — mit Alfred Polgar’ „im Gepäck“. Alfred Polgar? Aus Wien aber sind Sie doch allein, ohne Ihre Eltern, geflüchtet? Ja, das hatte mit der komplizierten Familiensituation zu tun: Die Ehe der Eltern war eigentlich am Ende. Mein Vater lebte zwar zuhause, hatte aber eine Freundin, so daß er mich — nicht ohne Schuldbewußtsein — zunächst allein auf die Reise schickte (allerdings, wie Stephan im Roman, wie ich schon andeutete, nicht direkt nach Paris). Auch meine Mutter und meine Schwester haben Österreich ohne meinen Vater verlassen, der höchstwahrscheinlich mit seiner Freundin offenbar zunächst nach Zürich, dann nach Frankreich gefahren ist. In Paris haben Sie ihre Familien-Mitglieder, wie ich Ihrer vorhergehenden Aussage entnehme, wiedergetroffen. Stimmt nicht ganz, Mutter und Schwester habe ich erst in Siidfrankreich wiedergesehen. Wir sind dann von dort tiber Spanien nach Portugal und schlieBlich in die USA, wo sich meine Eltern endgiiltig getrennt haben. In Ihrem Roman eröffnet sich für Stephan trotz des düsteren Hintergrunds seiner Vertreibung mit Paris eine neue, fast abenteuerliche Welt. Im Vergleich zu seiner Heimatstadt Wien läßt ihn die impulsive französische Metropole geradezu aufblühen. Was ist daran autobiographisch? Oder lassen Sie mich doch konkreter fragen: Wie haben Sie nach Ihrer Ankunft an der Seine Ihr Leben organisiert? Wo haben Sie gelebt? Wie sind Sie mit den Franzosen zurechtgekommen?