OCR
Zunächst habe ich in einer Pariser Pension gewohnt, wofür mein Vater aufkam. Zu allererst habe ich dieser irrsinnig pulsierenden Stadt gegenüber eine gewisse Abwehr empfunden, dann aber — da besuchte ich bereits ein Lyc&e — eine enorm intensive Beziehung zu Frankreich entwickelt, wobei auch ein französischer Freund eine Rolle spielte, der mich mit Nachdruck in das französische Leben eingeführt hat und der übrigens auch im Roman vorkommt. In dieser Zeit entstanden meine ersten Gedichte — auf Französisch! Hatten Sie Ihr Interesse an der Literatur bereits aus Wien mitgebracht oder ging der Impuls von Paris und der Begegnung mit der modernen französischen Literatur aus? Gute Frage, zu deren Beantwortung ich etwas ausholen muß: Als ich in Wien auf das Gymnasium ging, begann meine Mutter, die sich vorher unglaublich auf mich konzentriert hatte, mich zugunsten meiner jüngeren Schwester‘ zu vernachlässigen. Das führte dazu, daß ich die Flügel hängen ließ, mich innerlich von der Schule verabschiedete, das Gymnasium verließ und zu einer Höheren Handelsschule wechselte, die ich nur selten besuchte. Stattdessen saß ich in Parks herum, wo ich anfing Literatur zu lesen — also sehr spät eigentlich, aber dafür um so intensiver, wobei ich das Niveau der Bücher und Autoren, die ich las, aus heutiger Sicht als nicht besonders hoch bezeichnen möchte, etwa Vicki Baum, Hans Fallada und Erich Maria Remarque. Sehr verbunden fiihlte ich mich mit Anton Wildgans. Auf jeden Fall war ich über das Lesen der Literatur sehr nahe gekommen. Nun bestand mein damaliger engerer Freundeskreis aus drei jungen Männern verschiedener — wie man sagt — politischer Couleur, einer von ihnen wie ich aufgrund seiner „Herkunft“ gefährdet. Der hat immer so ein bißchen - wie soll ich das ausdrücken? — „aufgeschnitten“ und hat gesagt, er würde sich umbringen. Ich fuhr mit meinem Vater zum Pferderennen in die Freudenau? und als ich zurückkam, lag dieser Freund blutend auf dem Asphalt. Er hatte Gift genommen und sich aus dem Fenster gestürzt. Und das hat mich zu dem Entschluß geführt, einen Roman zu schreiben, den ich tatsächlich begonnen habe und „Leukämie“ nannte. Der Titel verweist auf die Zersetzung einer Freundschaft in kranker, brutaler Zeit, einer Freundschaft von vier jungen Männern, von denen einer schon vor dem „Anschluß“ illegal der Hitler-Jugend angehörte, der andere streng katholisch war und die anderen beiden durch die Nürnberger Rassegesetze bedroht waren. Das war der eigentliche Beginn meiner literarischen Vorhaben. Interpretiere ich das richtig, daß es dieser Roman ist, den Sie als zu finalisierendes Projekt am 11. April 1943 in Ihrem amerikanischen Tagebuch! erwähnen? Völlig richtig... ... aber womit wir bereits wieder in Amerika wären. Bleiben wir noch einen Moment in Paris, wo Sie Gedichte auf Französisch verfaßten. In Ihren literarischen Texten begegnet man beispielsweise ab und an dem Namen Paul Verlaine. Verweist dies auf eine mögliche frühe Beeinflussung durch die modernere französische Poesie? Die Eindrücke und möglicherweise Einflüsse der französischen Literatur waren insgesamt umwerfend und keineswegs auf Verlaine begrenzt. Zu der Zeit wurde in französischen Lyc&es noch strengstens nach Jahrhunderten unterschieden, und da hat man als Schüler etwa eine persönliche Vorliebe für das 19. Jahrhundert entwickelt. Aus dem 16. Jahrhundert habe ich besonders Ronsard'!' gemocht, während ich z.B. zu einer Größe des 17. Jahrhunderts, Moliere, bis heute keine Beziehung habe. Die Francisco Tanzer, Anfang der 1970er Jahre. Foto: Wolfgang F. Detering/Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Vorlaß Francisco Tanzer. Leider ist Francisco Tanzer (eigentlich: Franz Herbert Leopold Tänzer) am 25. Oktober 2003 in Düsseldorf gestorben. Als ich ihn auf Einladung Volker Kaukoreits am 19. September 2003 im Österreichischen Literaturarchiv kennenlernen durfte, beeindruckte er mich durch seine Aufmerksamkeit im Gespräch, verbunden mit einer Art stiller Heiterkeit, die dem zierlichen Mann gut anstand. Wir vereinbarten einen Vorabdruck der ersten beiden Kapitel seines Romans „Die Befreiung“ in ZW: Das erste Kapitel, in dem Tanzer als US-amerikanischer Lieutnant in ein kriegszerstörtes Deutschland zurückkehrt und sich auf der Fahrt an seine Flucht aus Wien sieben Jahre zuvor erinnert, und das zweite, das parallel dazu von den Gedanken, Gefühlen und Nöten einer jungen deutschen Frau in den letzten Tagen des Krieges erzählt. Wir werden darauf zurückkommen, sobald die durch den plötzlichen Tod Tanzers entstandenen Fragen geklärt sind. —- K.K. unerhörte Beeindruckung durch die französische Literatur hat sich — das ist vielleicht ganz interessant — auch auf mein Befinden ausgewirkt, weil ich dadurch — obwohl ich die französische Sprache bereits seit Kindheit sprechen mußte — die innere deutschsprachige Grenze überschritten habe, während ich, als ich nach Amerika kam, fast wie in einem Kälteschock auf die deutsche Sprache zurückgeworfen wurde und deshalb auch mein „Journal“ auf Deutsch verfaßt habe. Auf welchem Weg sind Sie eigentlich in die USA gelangt? Sie erwähnten vorhin, Paris mit Alfred Polgar verlassen zu haben. Mein Vater ging des öfteren, meines Wissens zum BridgeSpielen, ins „Cafe Central“, wo auch Polgar verkehrte. Im Pariser Exil sind sie sich wiederbegegnet, wodurch aus dem bloßen SichKennen eine etwas engere Bekanntschaft wurde. Mein Vater besaß in Paris ein Auto, und als Not am Mann war, hat er den Polgar 21