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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Um die Geschichte seiner Familie hat sich der amerikanische Rechtsanwalt Tom Adler nie gekümmert. Er wußte natürlich, daß er in Wien geboren und im Alter von wenigen Monaten mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten geflüchtet war, er wußte auch, daß sein Großvater Guido ein berühmter Musikwissenschaftler gewesen war, einer der Mitbegründer dieser Disziplin. Außerdem erinnerte er sich, daß sein Vater nach Ende der NaziHerrschaft viel Zeit damit verbracht hatte, die wertvolle Bibliothek des Großvaters aufzufinden und rückzufordern, Zeit, die dem Kind Tom entzogen wurde. Dem Vater wurde ein Teil der Bibliothek und der umfangreichen Korrespondenzen Guido Adlers zurückgegeben und er verkaufte diese schließlich an die University of Georgia. Die darin enthaltenen Briefe Mahlers an Guido Adler hat der Musikologe Edward E. Reilly in einen großen Essay aufgenommen, der von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft publiziert wurde. (Gustav Mahler und Guido Adler. Die Geschichte einer Freundschaft. Wien: Universal Edition 1978). Auf S. 46 können wir lesen: Adlers fünfzigster Geburtstag am 1. November 1905 war ein Anlaß, bei dem Mahler deutlicher denn je seinen Gefühlen für seinen Freund Ausdruck gab. Er schenkte Adler die autographe Partitur eines seiner bedeutendsten Lieder: Ich bin der Welt abhanden gekommen mit der Widmung Meinem teuren Freunde Guido Adler (der mir nie abhanden kommen möge) als ein Andenken an seinen 50. Geburtstag. In Reillys dazugehöriger Fußnote heißt es: „Alle Bemühungen, die erwähnte Partitur des Liedes aufzuspüren, sind bis jetzt vergeblich geblieben.“ Tom Adler wußte nichts von Mahlers Geschenk und von Professor Reillys Schrift, bis er eines Tages im Frühjahr 2000 ein e-mail von der ihm nicht bekannten Wiener Historikerin Brigitte Hamann erhielt, die gerade an ihrem Winifred Wagner-Buch arbeitete. Sie hatte in den Bayreuther Archiven einen Brief von Dr. Melanie Adler entdeckt, Tochter Guido Adlers und somit Tom Adlers Tante, die er nie gesehen hatte, einen Brief, der eigentlich ein Hilfeschrei war. Nun begann Tom Adler, seit kurzem im Ruhestand, sich mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Was hatte sich rund um seine Tante abgespielt, von der er wußte, daß sie deportiert und umgebracht worden war? Und wo steckte das Mahler-Autograph? Auf Anraten von Hamann wandte er sich an Hofrat Brosche, Leiter der Musiksammlung der Osterreichischen Nationalbibliothek, mit der Frage, ob er vielleicht etwas vom Verbleib des Manuskriptes wisse. Brosches Antwort fiel tiberraschend aus: Das jahrzehntelang verschollene Mahler-Manuskript befinde sich seit kurzem beim Auktionshaus Sotheby’s in Wien. Es sei wegen seiner kulturhistorischen Bedeutung bereits mit einem Ausfuhrverbot belegt. Bei Sotheby’s eingebracht hatte es ein Wiener Rechtsanwalt, dessen Familienname Tom Adler durch die Akten bereits vertraut war. Er war ein Sohn jenes Anwaltes, der nach Guidos Adlers Tod einige Monate lang Tante Melanie vertreten hatte, und er erklarte, Melanie Adler habe das Mahler-Autograph seinem Vater geschenkt. Als Honorar sozusagen. Hatte er wirklich ihre Interessen vertreten oder vielmehr die Interessen jener Leute, die an Guido Adlers Sammlungen herankommen wollten? Und war Melanie nach damaligem Un-Recht tiberhaupt in der Lage, Geschenke aus dem Nachlaß ihres Vaters zu machen? In einem Bändchen von rund 180 Seiten, darunter acht Seiten Quellennachweise, erzählt Tom Adler - in englischer Sprache — von seinen Recherchen. Er erzählt auch die Geschichte der letzten Lebensjahre des Großvaters — ein wichtiger Beitrag zu dessen Biographie. Mit Genugtuung lesen wir, daß es Guido Adler durch Intervention einiger Schüler gegönnt war, in seinem Haus in der Wiener Lannerstraße eines natürlichen Todes zu sterben, am 15. Februar 1941. Mit seinem Tod begann Melanie Adlers Kampf um ihr Erbe, ein aussichtsloser Kampf, den Tom Adler auf Grund von Korrespondenzen aller Art rekonstruiert. Wenn man liest, wie sich die namhaften Vertreter der Wiener Musikwissenschaft, allen voran Erich Schenk, aber nicht er allein, in diesem Fall verhalten haben, Männer, die, wie wir wissen, auch nach 1945 im Wiener Kulturleben bedeutende Rollen spielten, errötet man vor Zorn und Scham. Der einzige von Guidos Schülern, der jederzeit zu Melanie Adler stand, aber doch nicht helfen konnte, war der Münchener Musikologe Rudolf von Ficker, ein Bruder des berühmten Herausgebers des „Brenner“ (auch Winifred Wagner scheint sich bemüht zu haben). Ficker schrieb im April 1941 an besagten Rechtsanwalt, daß die Universität München am Kauf von Guido Adlers Bibliothek interessiert sei. Er bekam, laut Tom Adler (S. 99), niemals eine Antwort. Stattdessen erreichte ihn ein Brief von Melanie Adler, in dem sie schilderte, wie sie bezüglich der Bibliothek unter Druck gesetzt werde. Im August bestellte sie, Tom Adler zufolge (S. 103), einen neuen Anwalt. Ende 1941 erhielt Ficker den letzten Brief von Melanie, danach tauchte sie unter. Im Mai 1942 wurde sie gefaßt, nach Minsk deportiert und ermordet. Bei seinem Wien-Besuch im Jahr 2000 versuchten Tom Adler und sein Wiener Anwalt mit dem Besitzer des Mahler-Autographs, der es dem Auktionshaus übergeben hatte, in Verhandlungen zu treten. Er war Adlers Argumenten nicht zugänglich; auch dessen generöser Vorschlag, das Autograph gemeinsam einer öffentlichen Wiener Sammlung zu schenken ($. 147), stieß auf Ablehnung. Nicht einmal Kopien sollten davon gemacht werden! Der Fall muß also von einem Gericht entschieden werden. Für seine amerikanischen Leser liefert Tom Adler eine Übersicht über die österreichische Gesetzeslage und die bekanntermaßen unzureichende österreichische Restitutionspolitik. Er erwähnt auch die von der Regierung eingesetzte Historiker-Kommission, die ihre Arbeit vor kurzem - nach Erscheinen des Buches — abgeschlossen hat und in ihrem Bericht Tom Adlers Analysen vollauf bestätigt. Nicht nur die Frage nach dem künftigen Schicksal von Mahlers Lied-Autograph bleibt offen, sondern auch der Verbleib einiger anderer Schätze, die Guido Adler besessen hat, darunter eine Totenmaske Ludwig van Beethovens, von der es nur ganz wenige Exemplare gibt. Tom Adler (with Anika Scott): Lost to the World. USA 2002. Orders @Xlibris.com 33