ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT
Trauerrede, gehalten am 25. September 2003
Liebe Tomiko Mueller, werte Trauergäste,
Leo Mueller ist tot und wir sind hier, um uns gemeinsam an
ihn zu erinnern.
Leo Mueller wurde am 19. September 1906 in Wien als Sohn
tschechisch-jüdischer Eltern geboren und wuchs im 17. Bezirk,
in Hernals, auf. Sein Vater war Apotheker. Größeren Eindruck
als die väterliche Apotheke machte offenbar auf den Knaben,
so hat er es jedenfalls später berichtet, die Militärmusik der k.u.k.
Monarchie, wenn die Regimenter durch die Straßen zogen, und
sie hat vielleicht seinen baldigen Entschluß, Musik zu studie¬
ren, beeinflußt. Nach dem Besuch des Realgymnasiums in der
Kalvarienberggasse studierte er an der Wiener Musikakademie
Komposition (bei Joseph Marx), Klavier (bei Josef Hofmann)
und Dirigieren (bei Leopold Reichwein). 1924 wurde er als
Korrepetitor an der Wiener Volksoper engagiert, bald darauf aber
an der Deutschen Oper in Prag, wo er zunächst als Assistent von
Wilhelm Steinberg und Georg Szell, dann als Kapellmeister ar¬
beitete und selbst Opernaufführungen leitete.
Unter dem Eindruck der im¬
mer mächtiger werdenden
Nationalsozialisten und den
Erfolgen Hitlers in Nazi¬
deutschland, die niemand in
Europa bereit schien zu
bremsen, entschloß sich Leo
Mueller bereits vor 1938
Prag und überhaupt Europa
zu verlassen. Er nahm ein En¬
gagement in den Vereinigten
Staaten an. Leo Mueller soll¬
te recht behalten: Die Emi¬
gration wurde zur Vertrei¬
bung, als der sogenannte An¬
schluß Österreichs und die
Okkupation Prags vollzogen
waren. Rückblickend drück¬
Leo Mueller in seiner Exilzeit te Leo Mueller es in einem
Gespräch so aus:
Ich war fast neun Jahre in Prag, aber dann habe ich mir ge¬
dacht: Jetzt muß ich weg und woanders eine Stelle bekommen
[...]und das war rein politisch motiviert |... ] mir blieb doch vie¬
les erspart. Ich habe in dieser Beziehung wirklich Glück gehabt,
daß ich weder in Österreich noch in der Tschechoslowakei er¬
wischt wurde. Das heißt, ich hatte noch die Freiheit. Da ich ein
Engagement vorweisen konnte, hatte ich das Visum bekommen. '
Auch in Amerika hatte Leo Mueller zunächst größeres Glück
als andere Emigranten: Er konnte sofort in seinem Beruf arbeiten
— mit prominenten Sängerinnen und Sängern wie Kerstin Thor¬
borg und Emanuel List. Seine weiteren wechselnden Engage¬
ments geben einen guten Eindruck von den Fährnissen und Über¬
raschungen, von den glücklichen und unglücklichen Zufällen,
wie es sie offenbar im Musikerleben in besonderem Ausmaß
gibt, und die ein Zuhause zu finden fast unmöglich scheinen las¬
sen; Musiker sind gut geschulte Emigranten:
Ich habe also doch das erste Jahr recht gut überstanden, viel
besser als manch andere Emigranten, d.h., ich mußte kein Ge¬
schirr abwaschen — das hätte auch passieren können. Noch vor
Ausbruch des Krieges gingen manche dieser Leute, mit denen
ich arbeitete, wieder nach Europa zurück. Ich hatte plötzlich
nichts, keine Arbeit mehr, und wieder durch einen besonderen
Zufall eröffnete sich eine Gelegenheit: Jemand, den ich kann¬
te, eine Sängerin, eine Wienerin, fragte mich, ob ich nach San
Francisco kommen will. Sie brauchte jemand, der Italienisch
kann. [...] So bin ich nach Kalifornien gekommen |... ] Ich ha¬
be [... ] im Film ein bißchen mitgearbeitet, mit Jessner [...] und
hatte sogar einige Male Gelegenheit zu dirigieren.
Unter der Ägide des legendären Otto Klemperer, der damals
der Direktor des Los Angeles Symphony Orchestra war, bau¬
te Leo Mueller zunächst ein Jugendorchester auf.
Es hat sehr gut angefangen, wir hatten sehr gute junge Leute,
und das ging sehr schön. Wir hatten bereits ein Engagement,
aber dann kam der Krieg. Und dann war das Orchester einfach
nicht mehr zu halten. Die Leute sind eingezogen worden u.s.w.
Im Zuge dieser Ereignisse übersiedelte Leo Mueller wieder
nach New York. Wieder ergaben sich neue Arbeitsmöglichkeiten:
In Los Angeles hatte ich den Erich Wolfgang Korngold ken¬
nengelernt. Meine Frau hat etwas von ihm gesungen. Und er
hat damals in New York gerade eine Fledermaus in Englisch
‚für den Broadway vorbereitet und mich als Bühnenpianist en¬
gagiert.
Bei dieser Produktion lernte Mueller Max Reinhardt kennen,
und er hatte Gelegenheit, dem berühmten Regisseur bei der
Verfeinerung der Fledermaus-Inszenierung zu beobachten. Doch
für Leo Mueller drehte sich das Karussell der Engagements bald
weiter:
Ein früherer Kollege von mir, ein Tscheche, mit dem ich in
Prag zusammen hervorragend gearbeitet habe, machte tsche¬
chische Sendungen, die nach dem besetzten Gebiet gesendet wur¬
den [...] Und dieser Freund war dann verhindert und hat mich
empfohlen. So habe ich eine Zeitlang diese Sendungen gemacht
als musikalischer Leiter und Begleiter [...] Das waren politi¬
sche Sendungen. Und das war schon auch interessant. Es war
auf der Ebene eines politischen Kabaretts.
Nachdem Leo Mueller diese Sendungen 1942 und 1943 mu¬
sikalisch betreut hatte, wurde er zum Militär, also zur US-Army,
eingezogen.
Und wieder, durch jemand, den ich kannte, bekam ich eine
besondere Möglichkeit: Ich habe bei der Vorgängerorganisation
des CIA, die Office of War Information hieß, deutschen Funk¬
verkehr abgehört. Bis zum Ende des Krieges. Die Leute, die das
gemacht haben, hatten die Möglichkeit, im amerikanischen
Staatsdienst weiter zu bleiben, wenn sie eine sehr gute Klassifi¬
kation hatten. Ich hatte nicht die allererste Klassifikation, aber
ich hatte die zweithöchste und konnte bleiben.