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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Leo Mueller hat ernsthaft erwogen zu bleiben und den Musikerberuf — wie er selbst sagt — „an den Nagel zu hängen“: Es war immerhin eine feste Anstellung. Doch die Musik läßt sich offenbar nicht so einfach an den Nagel hängen: Er ging schließlich im Herbst 1945 an die Metropolitan Opera. Der Chordirektor war damals ein gewisser Kurt Adler, der war aus Atzgersdorf, sehr guter Musiker, Assistent von Szell in Berlin, und Szell hatte ihn auch nach Prag gebracht; und dieser Kurt Adler fragte mich: „Wir brauchen einen zweiten Chordirigenten...?“ Es hat sich gerade gut getroffen. Ich war vier Jahre an der Met und habe auch Korrepetition gemacht. Seit 1942 war Leo Mueller mit Tomiko Kanazawa verheiratet — kurz vor seinem Tod haben sie ihren 61. Hochzeitstag gefeiert. Die Karriere der japanisch-amerikanischen Sängerin hatte damals gerade begonnen und sie sollte bald zahlreiche Engagements in Europa bekommen. Und da wollte ich auch nach Europa zurück. Ich bin von der Met weggegangen, es war also wirklich langweilig geworden... Aber zur Rückkehr nach Europa kam es zunächst noch nicht. Ein Freund, der bekannte Musikwissenschaftler Georg Knepler, wollte ihn zwar in die eben gegründete DDR holen, ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen angesichts Muellers eben erst beendeter Tätigkeit beim Office of War Information. Natürlich erhielten die Muellers keine Einreisegenehmigung und so kehrten sie in die USA zurück. Nach einem Jahr an der San Francisco Opera übernahm Mueller schließlich von 1957 bis 1963 die Leitung des Halifax Symphony Orchestra in Kanada, dem er trotz schwieriger Arbeitsbedingungen seine reiche Erfahrung als Musiker aus Wien und Prag mitteilen konnte. Das gilt auch für die sich anschließende Arbeit als Dirigent an der Baltimore Opera und als Lehrer am Peobody Conservatory. Als Gastdirigent jedoch wirkte er bei den Münchner Philharmonikern und bei verschiedenen Rundfunkorchestern im süddeutschen Raum und in Österreich. Seit 1976 war Leo Müller wieder ständig in Wien, wo er — durch die Vermittlung Hilde Güdens, der berühmten Sängerin — die musikalische Leitung des Studios der Wiener Staatsoper übernahm, also der prominentesten Ausbildungsstätte, die sich denken läßt. Im vergangenen Jahrzehnt arbeitete er noch kontinuierlich als renommierter Musikpädagoge am Klavier insbesondere mit einzelnen Sängerinnen und Sängern und blieb überhaupt bis zuletzt auf vielfältige Weise mit der internationalen Musikwelt verbunden. Ich selbst habe ihn vor über zehn Jahren kennengelernt - im Zuge meiner Arbeiten für ein Projekt über die aus Österreich vertriebenen Musikschaffenden. Aus dem Gespräch über sein Exil entwickelte sich für mich eine Freundschaft, wie man nur wenige im Leben hat. Es war übrigens nicht so leicht, Genaueres über Leo Muellers verschiedene Tätigkeiten, insbesondere seine Erfolge, zu erfahren. Er war eigenartig bescheiden und wehrte Bewunderung und Interesse für die Arbeit mit allerlei komischen Bemerkungen und Wortspielen ab, die er auch sonst immer auf den Lippen hatte. Aber es war das eine ganz bestimmte Bescheidenheit, in die Erfahrungen eingegangen waren, über die nur schwer zu sprechen war. In einem unserer Interviews sagte er: Vielleicht hätte ich — wäre der Nationalsozialismus nicht dazwischen gekommen — sogar eine große Karriere machen können — aber daß ich nicht im Konzentrationslager war und nicht gefoltert wurde [...], das ist doch mehr, als man in dieser Zeit erwarten konnte. [...] Was bedeutet die große Karriere angesichts solcher Dinge? Diese Dinge waren immer gegenwärtig. Sie waren es umso mehr, als Leo Mueller doch auch ein begnadeter Genießer war und ein fröhlicher Mensch. Mit ihm in ein Restaurant zu gehen, war nicht nur deshalb ein Vergnügen, weil er nur in sorgfältig ausgewählte, hervorragende, aber nicht unbedingt ausgesprochen noble Restaurants ging, sondern auch, weil man etwas davon erfahren konnte, wie man sich Zeit nimmt, mit allen Sinnen zu genießen. Er sprach da, wenn man 2.B. Italienisch essen war, gern mit dem Besitzer oder dem Koch über die Feinheiten der jeweiligen Zubereitung eines bestimmten Fisches, natürlich auf Italienisch, das er ausgezeichnet beherrschte wie auch Tschechisch, Englisch, Französisch... Nach einem Komponisten gefragt, an den mich Leo Mueller am meisten erinnert, würde ich spontan Joseph Haydn nennen: Der unablässige, mitunter renitente Humor, in dem sich etwas von einer glücklichen, lausbübischen Kindheit erhalten hat. Fast bereits im Sterben liegend, machte Leo Mueller manchmal noch seine komischen Bemerkungen. Als wir ihn einmal verließen, es war einer der letzten Besuche, er lag bereits im Caritas-Pflegeheim, wo er einige Tage später auch sterben sollte, rief er uns nach: Sollte ich morgen gestorben sein, rufe ich Sie an. Nicht zuletzt war da die Liebe zur „Schöpfung“. Auf seinem Tisch mit den Zeitschriften lagen nicht nur Time Magazine und Opera News, sondern auch Das größte Tierschutzmagazin Europas. Es war das allerdings eine Liebe zu den Tieren und ein Mitleid mit jeder gequälten Kreatur, die sich nicht zuungunsten der Menschen auswirkten, wenngleich Leo Mueller in den letzten Jahren sehr pessimistisch war, was die Zukunft der Menschheit betraf. Leo Mueller war — darauf sei hier nicht vergessen — ein Linker im besten Sinn des Wortes. So friih er sich vom Staatskommunismus auch enttäuscht zeigte, beharrte er doch bis zuletzt mit Karl Marx darauf, daß die Barbarei droht, wenn sich nichts ändert. Leo Mueller kehrte zwar nach Österreich zurück und lebte in diesem Land schließlich noch fast drei Jahrzehnte. Aber es 35