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TRUST blieb dennoch eine Distanz, so sehr er mit der Musik dieser Stadt auch verbunden war und am Kulturleben, besonders was Konzerte und Theater betrifft, intensiv teilnahm. Es blieb etwas von der Distanz des Exils, das sich auch nach der Rückkehr nicht aufheben ließ. Vor einigen Jahren schenkte er seinen engeren Freunden ein kleines Büchlein von Walter Sorell, einem Schriftsteller und Kulturhistoriker aus Wien, ein Jahr älter als Leo Mueller und wie er ein Emigrant, ein aus Österreich Vertriebener. Leo Mueller schenkte uns das Buch, das von berühmten Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern handelt, mit den Widmungs-Worten: Freunden, Verbannten und Ex-Verbannten besonders empJohlen von Leo Mueller. Dieses Büchlein berührte mich in einer merkwürdig vertraulichen Weise. Man könnte annehmen, daß zwischen den in diesem Buch abgehandelten „erlauchten“ Geistern und dem durchschnittlichen Leser kaum irgendwelche Berührungspunkte bestehen. Doch gibt es das Band, das alle Verschiedenheiten zusammenfügt: das Exil. [...] Eure Eindrücke, zustimmend oder kritisch, sind sehr willkommen. Herzlichen Gruß. L. M. Ich möchte diese Trauerrede mit drei Zitaten aus diesem Buch beschließen? — in ihnen ist auf je verschiedene Weise ein Vorbehalt formuliert. Der erste Vorbehalt betrifft die Frage des Pazifismus in den Vereinigten Staaten, wo Leo Mueller und auch Walter Sorell Zuflucht fanden: ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Als Pazifist glaubte ich zwar, daß im allgemeinen kein Krieg gerechtfertigt sei, doch daß der Zweite Weltkrieg notwendig war - um zu verhindern, daß die Menschheit in endloser Barbarei versinkt. Der zweite Vorbehalt betrifft das Heimatgefühl in der Heimat: Ich verstehe, daß die meisten Menschen das Gefühl einer wirklichen, nicht einer imaginären, erträumten Heimat brauchen. Sie wollen das selbstverständliche Gefühl einer Gemeinschaft atmen. Für sie ist Vertrautheit identisch mit Geborgenheit. Man denkt dabei jedoch nie daran, daß Heimat auch mit Grenzen und Abgrenzung zu tun hat. Exil ist ein Land ohne Grenzen. Schon Erasmus, ein großer Humanist und konservativer Revolutionär, aber anscheinend kein guter Holländer, sagte im Jahre 1530: „Das ganze Universum ist mein Vaterland.“ Der dritte Vorbehalt schließlich wendet sich dagegen, einen Schlußstrich unter das Erinnern zu ziehen: Alle Vertriebenen, ob sie glimpflich davongekommen sind oder knapp dem Knall der Kugel oder dem Gasgeruch entgingen, sind Gezeichnete, die, solange sie leben, einen Schatten über ihrer Seele fühlen. Leo Mueller ist tot, und wir werden uns, solange wir leben, an ihn erinnern. Anmerkungen 1 Hier und im folgenden wird aus dem Buch: Orpheus im Exil. Die Vertreibung der österreichischen Musik 1938-1945, von Walter Pass, Wilhelm Svoboda und Gerhard Scheit (Wien 1995), zitiert. 2 Walter Sorell: Heimat Exil Heimat. Wien 1997. Überlegungen zu einem Liederzyklus für Sopran, Tenor, gemischten Chor und Orchester nach Gedichten von Berthold Viertel und nach Musik von Franz Schubert mit der abschließenden Vertonung seiner Erzählung „Mein Traum“ (1822) Der Wanderer fragt den Leiermann am Ende seiner „Winterreise“: „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ und tut damit kund, daß er noch im Moment letzten Verlassenseins hofft, ein Mensch aus Fleisch und Blut und nicht der Schatten des Mondes zöge als sein „Gefährte mit“. Zwar hat der Komponist dieses wohl bekanntesten Liederzyklus Zeit seines Lebens vielerlei Gefährten gehabt (und er muß später so sehr der Mittelpunkt ihrer Zusammenkünfte gewesen sein, daß sich für sie der Name „Schubertiaden“ einbürgerte), die ihn — selbst Maler, Schriftsteller und Musiker oder einfach nur Kunstsinnige und Lebensfrohe — als Menschen und Künstler anerkannten, sich womöglich als gleich gesinnt verstanden, und doch verdichtete sich in ihm ein Gefühl, das er im Jahre 1824 seinem Tagebuch anvertraut: „Man glaubt immer zueinander zu gehen, und man geht immer nur neben einander her.“ 36 Mehr als unverstanden: Verkannt, „fremd“ und wohl auch ausgestoßen empfand sich Franz Schubert aber in der moralischen Enge und der politischen Kälte im Wien Metternichs nach 1815. Er litt unter dieser regressiven und repressiven Zeit, von der er sagte, daß sie ihn „thatlos ... zerstäubet“ und „Großes zu vollbringen wehrt“. Öffentliche Resonanz fand er wenig, hauptsächlich als Komponist von Liedern, einer allerdings wenig repräsentativen Gattung. Die groß dimensionierten Werke, mit denen er durchdringen wollte, und auf die er die meiste Zeit und Energie verwandte, die Opern, Sinfonien und Messen, wurden zu seinen Lebzeiten kaum aufgeführt. Und doch ist die bittere Dialektik nicht zu verkennen, daß es nicht zuletzt diese Zeit mit ihren Bedrückungen war, die ihm jenen Ton des Schmerzes und der Sehnsucht, des Verlustes und der Verlorenheit abrang, der ihn einzigartig machte. Manches seiner Werke blieb unvollendet, nicht nur seine berühmteste Sinfonie. Selbst sein Lebensfaden riß so früh, daß Grillparzer für die ihm Zugeneigten in seiner Grabrede den Satz vom „schönen Besitz und den noch schöneren Hoffnungen“ prä