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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT ORPHEUS gen konnte. Es ist müßig zu spekulieren, was Schubert geschaffen hätte, wenn ihm ein längeres Leben vergönnt gewesen wäre. Bemerkenswert ist, daß das Fragmentarische bei ihm nicht zwangsläufig als Mißlingen erscheint, sondern als Resultat eines Lebensgefühls, das den Riß reflektiert, der durch die Zeit geht. Es ist ein eminent modernes Gefühl und so gesehen — auch das ist Teil der oben angesprochenen bitteren Dialektik - ist es Ursache für einen nicht unwesentlichen Teil seines bleibenden Ruhmes. Mit Franz Schubert teilt Berthold Viertel (1885 — 1953) eine Biographie, „die abriß, kaum daß sie noch begonnen hatte“. Wie dieser wuchs er in Wien auf, entstammte aber — als Sohn jüdischer Eltern galizischer Herkunft — nicht dem österreichischen Milieu, um es dennoch umso intensiver und nachhaltiger einzusaugen. Im Umfeld von Karl Kraus und Victor Adler begann er früh als Lyriker, sowie als Regisseur an bedeutenden Bühnen (Dresden, Düsseldorf) und Leiter freier Theaterensembles. Parallel dazu war er Filmregisseur, seit 1928 in Hollywood. 1932 nach Europa zurückgekehrt, erlebte er den Machtantritt Hitlers in Berlin. Sein Weg ins Exil führte ihn über Prag, Wien und Paris nach London. Ab 1939 lebte er in New York und Santa Monica und wurde Mitbegründer der „Tribüne für freie deutsche Literatur und Kunst“ sowie des „Aurora Verlags“. Er hatte vielfältigen Umgang mit bedeutenden Exilanten, war sogar mit seiner Frau Salka oft Mittelpunkt ihrer Treffen, hatte — wie Schubert im Kreise seiner Freunde — nach eigenen Worten „am Lagerfeuer der Zukunft eine Stimme im Rate der vorwärts Gerichteten“. 1947 kehrte er zum zweiten Mal nach Europa zuriick, inszenierte am Ziiricher Schauspielhaus, am Wiener Burg- und Akademietheater, den Salzburger Festspielen, beim Berliner Ensemble Brechts. Sein Leben mit den ständig wechselnden Exilstationen bilanzierend, schrieb er: „Ein einsamer Ton. Bruchstück einer Lebensmelodie, erklang und ging im Kriegslärm unter. Besinnung, die von der Tobsucht verschlungen wurde. Abende glänzten auf und Morgen. Abschiede vollzogen sich und immer wieder geschah ein Aufbruch und brach ab.‘ Er war — wie Schubert — ,,Zeitgenosse der Umwalzung, an ihr vergehend“, und obwohl der Bruch, den ihm die Zeit zweier Weltkriege aufgezwungen hatte, ungleich brutaler war als die Zeit der schlimmsten Restauration, mußte er ihn — Gefangener seines Geschickes - „als seine teuerste Erfahrung“ würdigen. Und: Bitterer noch als alle Dialektik im Falle Schuberts ist, daß Berthold Viertel und viele seiner Schicksalsgefährten doppelt elend waren: Verstoßen und vergessen. Für Franz Schubert war die Geschichte eine Instanz ausgleichender Gerechtigkeit, für Künstler wie Berthold Viertel bisher nicht. Seine Gedichte zu vertonen, heißt auch, den Versuch zu unternehmen, sie endlich in ihr Recht zu setzen, eine große Lebensleistung der Vergessenheit zu entreißen. Es geht aber nicht nur um einen Akt historischer Wiedergutmachung, sondern um mehr: Um uns. Denn die Lebensgänge Schuberts und Viertels halten gerade für unsere Zeit so viel Exemplarisches hinsichtlich des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Eigen- und Einzigartigen, dem Anders- und Fremdartigen bereit, daß eine wirkliche Kultur ohne Weiterdenken dieser Erfahrungen nicht möglich erscheint. Wir Ich habe nachgedacht. Ich möchte zeigen, Bevor ich gehe, daß uns mehr zu eigen Als nur der Traum und nur der Tod. Erklären möcht ich mit Geduld, Daß uns noch immer mehr bedroht Als unser Wahn und unsre Schuld. Bevor ich gehe, will ich jeden Mit meiner Seele überreden, Daß ich und du und alle wir Sind so gesellt und so gebunden, Daß wir in diesem blutigen Dunste hier Einander und die Welt gefunden. Und was uns immer tiefer droht. Ist mehr als Schuld und mehr als Tod. Ist: daß wir uns verlieren. Und daß wir sinken in der Welt, Wo nichts uns mehr zusammenhält, Tief unter allen Tieren. Darüber hinaus haben die Lebenslinien der beiden trotz des Jahrhunderts, das sie voneinander trennt, so viele Verwandtschaften und Schnittstellen, wohl auch Differenzen und Reibeflächen, daß es künstlerisch verlockend und ergiebig erscheint, sie von neuer Warte aus substanziell zu verknüpfen. Dies geschieht durch einen summarischen Bezug auf Schuberts „Unvollendete‘ und im Einzelnen auf thematisch verwandte Lieder aus seiner ,,Winterreise“ (die auch in ihrer Originalgestalt — wie angegeben — in die Wiedergabe des Zyklus eingefiigt werden können). Solche Bezüge sind in der Regel keine blanken Zitate, sondern oft sogar eine Ummünzung ihrer ursprünglichen Semantik. Zu erkennen ist, wie wenig es bedarf, daß Leichtigkeit in Schwere, Liebe in Haß, Gut in Böse umschlägt (das alles natürlich auch in umgekehrter Richtung), weil beides — bei Tönen wie bei Menschen - aus demselben Stoff ist. So gehen melodische oder harmonische Eigenheiten, charakteristische Figuren oder markante Wendungen, Grundrisse oder Gedankengänge Schuberts unversehens in einem neuen Zusammenhang auf, der sein Ziel findet, wenn sich im Schluß-Stück das durch Schuberts Musik angeregte neue Material zur — wohl ersten - Komposition seiner Erzählung „Mein Traum“ (geschrieben 1822 im Kontext der Unvollendeten) fügt. Dem Gang dieser Traumerzählung folgt die Komposition des Zyklus. Sie geht wie diese vom Status des Vertriebenen, Verbannten aus, der — weil die Umstände seines Zuhauses seinem legitimen Lebensanspruch feindlich sind - in „eine ferne Gegend“ wandern muß (Nr. 1 „Lebensgang“). Lebensgang Erdnähe, Sonnenferne Ist unser Los. Winzig sind uns die Sterne Und New York riesengroß. Das Meer schmiegt sich uns in die Poren, Wenn es zu Tropfen zerrinnt. Wir haben den Weg verloren, Den wir begannen als Kind. 37