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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT Der Zwiespalt der Gefühle: „Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe“ reflektiert die komplizierte Situation. Zwar ist das Weggehen unter der gegebenen Alternativstellung als selbstbestimmter Versuch zu sehen, neben der äußeren Unversehrtheit den Kern der Individualität zu bewahren, der durchaus partiell gelingt und sogar Momente neuen, wenn auch flüchtigen Glücks (“An der Ausgestoßenen Tisch“) erschließt, er kann aber der Vergeblichkeit nicht abhelfen, den Folgen von Gewalt und Willkür letztlich zu entrinnen. An der Ausgestoßenen Tisch An der Ausgestoßenen Tisch Füllten wir die Gläser frisch. Gaffer, Neider störten nicht, Denn wir schlemmten Zuversicht. Krähenfüße um den Mund Tauchten wir im Wein gesund. Geigen lockten den Gesang, Herzen wagten einen Klang. Sieh! Ein Vogel aus der Luft! Sein Gefieder wehte Duft. Goldner Vogel, wunderschön, Will sich auf dem Tischtuch drehn. Tänzelte und tanzte gar! Alle Freude wurde klar. Eins und zwei! Der Vogel wich, Durch die Luft ein goldner Strich. Schnell gekommen, schnell geschwunden, Hergeirrt und fortgefunden. Im Gegenteil: Die gebundenen Hände lassen den zum Zuschauen Verurteilten noch schmerzhafter zu Bewußtsein kommen, daß die Heimat sowohl das Liebenswerte wie auch die Kräfte seiner Zerstörung hervorbringt. Wen wie Schubert — und fiir Viertel gilt es ebenso — darüber „die Liebe und der Schmerz zerteilt“, der gibt zu erkennen, daß er mit allen Fasern seinem Ursprung verhaftet ist, aber auch, daß er nicht mehr dabei ist. Er schaut von außen und er schaut wehmütig zurück. Seine Sehnsucht richtet sich auf eine Zeit, wo der Weg noch nicht verloren war, auf ein Kinderland, das ohne Fragen Behausung und Wärme gab, nicht schmerzlos, aber niemals trostlos. Geschlossene Augen Still — Wenn die Große Hand, Die glättende, glatt streichen will! Nichts gekannt, Nichts gedacht, Nur Mildigkeit, nur diese Wohltat: Hand. Die sacht Mich ausstreicht, allen Streit. Und noch weiter: Auf Versöhnung und Liebe, als deren Kulminationspunkt mit einem Mal unter warm strömenden Tränen 38 als Vorschein eines paradiesischen Ur- oder Endzustands unendlich tief und unendlich kurz das bis dahin Unnennbare aufsteigt. [...] und ehe ich es wähnte, war ich in dem Kreis, der einen wunderlieblichen Ton von sich gab; und ich fühlte die ewige Seligkeit wie in einen Augenblick zusammengedrängt. Auch meinen Vater sah ich versöhnt und liebend. Er schloß mich in seine Arme und weinte. Noch mehr aber ich. (Schubert: Mein Traum) Die Musik sieht sich über die angesprochenen thematischen Bezüge hinaus der Musik Schuberts verpflichtet. Rein äußerlich orientiert sie sich am Orchester der „Unvollendeten“. So wie sie aber hier schon Erweiterungen vornimmt, versucht sie auch in ihren Strukturen und Redeweisen den Faden Schuberts aufzunehmen und zugleich weiter zu spinnen. Ob dieser Prozeß der Umschmelzung zu unverwechselbaren und neuen Ergebnissen führt, oder ob er es vermag, Brücken über die Zeiten zu bauen, muß sich beim Zuhörer erweisen. Die Musik setzt auf die Kraft des Chores, in dem sich Individualitäten mischen und doch kenntlich bleiben sollen. Umgekehrt vertraut sie den Sologesang Tenor und Alt an, die zwar als Register voneinander abgehoben sind, aber als benachbarte Stimmen zu einer „Vox humana“ verschmelzen sollen. Die Musik ist tonal und auf das Liedhafte bezogen. Sie ignoriert nicht, daß, was Stimme und Sprache verschlagen kann, nicht erst seit heute überhand nimmt. Sie verweigert sich der Beschönigung und ist doch getragen von der Sehnsucht nach dem Schönen. Sie besteht darauf, zu singen und zu sagen, um Erfahrungen aufzubewahren und weiter zu geben, sie ist aber auch unwillkürlich vorhanden, weil Singen und Sagen - wie Atmen — zum Leben gehört. Die Musik ist himmelweit von dem entfernt, was heute als Avantgarde gilt. Sie ist hinsichtlich aktueller Trends geradezu unbekümmert. Sie ist retrospektiv, weil sie in der Vergangenheit viel Unerledigtes und Unbereinigtes erkennt, schaut aber - Arm in Arm mit der unausrottbaren Hoffnung — nach vorn. Sie will nicht durch eine glänzende Oberfläche überrumpeln; sie versenkt, was ihr am wichtigsten ist, in die Struktur und hofft auf den zweiten Blick. Dabei ist sie keine Geheimschrift für Eingeweihte. Sie zeigt sich zugänglich wie Straßen und Plätze, deren Ton sie kennt und aufnimmt: Volks- oder Populärmusikalisches, auch politisch Aktivierendes (Eisler, der dritte Wiener und Exilant läßt grüßen!) und manches, was sonst noch am Herzen und am Wege liegt: Kulturgut und Strandgut, das Pathos großer Visionen und die Poesie des Alltags. Reinhard Fehling, geb. 1948 in Düsseldorf, studierte Pädagogik in Wuppertal, seit 1971 Gesamtschullehrer in Kamen. 1978-97 Komponist, Sänger, Instrumentalist der „Kamener Songgruppe“, mit der er seine Theodor Kramer-Vertonungen aufführte. Seit 1989 Lehrbeauftragter im Fachbereich Musik der Universität Dortmund, seit 1998 hauptberuflich am Institut für Musik und ihre Didaktik der Universität Dortmund tätig. — Reinhard Fehlings neuer Liederzyklus wird im Jahre 2005 in Dortmund vom Chor der Universität Dortmund und einem sinfonischen Orchester uraufgeführt.