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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT mal Halt zu gewinnen und nicht ganz mit der vom Staat verordneten „Volkstümlichkeit“ zu brechen, ließe sich die Eigenart von Mahlers Symphonik an der rückhaltlosen Form begreifen, mit der sie die Klischees des Jüdischen zitiert und darin die falsche Versöhnung der Volkstümlichkeit vor den Kopf stößt. Sie sei ,,zersetzend“, wurde ihr von den Antisemiten immer nachgesagt, und wirklich: deren Bewußtsein zu zersetzen ist nicht das geringste ihrer Verdienste. Sie macht jenes Jüdische zur eigenen Sache, das den Sadismus reizt, sagt Adorno: Ihr jüdisches Element weicht zwar „vor der Identifizierung zurück“, bleibt aber „dem Ganzen unverlierbar“. Dieser Unterschied kommt in der Parallelführung der beiden Komponisten zu wenig zum Ausdruck - etwa in Timothy L. Jacksons Beitrag: A Contribution to the Musical Poetics of Dmitri Shostakovich. Das Werk des sowjetischen Komponisten erscheint vielfach als direkte Fortsetzung des Mahlerschen. Gerade die Deutlichkeit, mit der sich Shostakowich auf das Judentum als „Rollenmaske“ bezieht, bringt aber die Musik immer wieder in die Nähe bloßer Folklore, schützte ihn so auch vor dem gleichlautenden Vorwurf stalinistischer Funktionäre, zersetzend zu sein. Mitunter ließe sich aus ihr das Konzept heraushören, wie es Lenin für das Zusammenleben der Völker innerhalb des sozialistischen Staats vorgegeben hatte und das nicht verwirklicht wurde: friedlich vereint, finden sich Anklänge an Mussorgsky und russische Volksmusik mit solchen an spezifisch jüdische Musiktraditionen. Noch in der politisch bewundernswerten Solidarität mit dem Judentum überwindet diese Musik nicht ihre eigene ästhetische Problematik: die Anpassung an die staatlich anerkannte Kultur, die über die Wirklichkeit hinwegtäuscht. Während die Mahlers, der vielleicht an einigen Stellen Einflüsse synagogaler oder profan-jüdischer Musiktraditionen „Der Schostakowitsch-Schock“ Schostakowitsch. — In der Wiener Zeitung vom 13.10. 2003 schreibt Edwin Baumgartner unter dem Titel „Der Schostakowitsch-Schock“ über ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter dem Dirigat von Rostropowitsch im Musikverein: „Da lief manch einer eilends davon - einige sogar noch während des Stückes. Wann hatte man denn je in einem ,Philharmonischen’ etwas gehört wie diese elfte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch? ... das grandios disponierte Orchester unter der charismatischen Führung Mstivlav Rostropowitschs ... [...] ,Das Jahr 1905’ ist der Untertitel — aber es ist kein heroisches Tauerpoem ..., sondern ein Schmerzensschrei gegen die Ungerechtigkeit des Todes. Keine bequeme Musik fiir die Ohren der kommunistischen Machthaber ... Und auch dem philharmonischen Abonnement-Publikum stand der Schock ins Gesicht geschrieben ...“ Auf Veranstaltungen des Orpheus Trust weisen wir auf der letzten Seite dieses Heftes hin! 42 nachgewiesen werden können, etwas von dem Verborgenen, das abgespalten und verschoben in die antisemitischen Projektionen eingegangen ist, in den Konzertsaal zurückholt und damit das Bewußtsein konfrontiert, das gerade an diesem Ort sich sicher glaubt. Um so schwerer wiegt, daß in den Beiträgen auf eine Konfrontation mit dem Weg, den Arnold Schönberg in der Nachfolge Mahlers gegangen ist, ganz verzichtet wird. Schönbergs bewußte Hinwendung zum Judentum seit den dreißiger Jahren und die ganz neue Verbindung von Judentum und Musik, die daraus folgte, wäre als unverzichtbarer Referenzpunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema zu betrachten. Die Spannungsverhältnisse innerhalb der musikalischen Moderne werden jedoch weitgehend ausgeblendet. Das Werk des russischen Komponisten wird in jener Isolation dargestellt, in der es selbst durch die Abschottung der sowjetischen Kulturpolitik einmal entstanden ist und gewirkt hat. So weist noch der Titel des Sammelbands mit dem Begriff des „musikalischen Erbes“ unfreiwillig zurück auf die Paradigmen realsozialistischer Kunstbetrachtung. Dennoch sind mit diesem Band allein durch die Fülle des Materials und die Vielfalt seiner Analysen endlich die Voraussetzungen geschaffen für eine kritische Arbeit zur Stellung und Bedeutung des Judentums im Werk von Dmitri Shostakowich. Gerhard Scheit Dmitri Shostakovich and the Heritage in Music. Hg. von Ernst Kuhn. Berlin: Verlag Ernst Kuhn 2001. 354 S. (ShostakovitchStudien. Bd.3). Orpheus Trust — Verein zur Erforschung und Veröffentlichung vertriebener und vergessener Kunst. Dr. Primavera Gruber A-1070 Wien, Sigmundsgasse 11/13. Tel. u. Fax +53 +1 526 80 92. E-mail: office @ orpheustrust.at. Homepage: http://www.orpheustrust.at Orpheus in der Zwischenwelt ist eine von Orpheus Trust herausgegebene, von Gerhard Scheit redigierte Beilage zu ZW. on VEREIN ZUR ERFORSCHUNG UND VEROFFENTLICHUNG VERTRIEBENER UND VERGESSENER KUNST