Vor 25 Jahren, am 17. Oktober 1978, nahm sich Jean Amery
in Salzburg das Leben. Das hartnäckige Schweigen über sein
literarisches und essayistisches Werk, das die österreichische
Öffentlichkeit (im Unterschied zur deutschen) immer schon prak¬
tiziert hat, konnte bisher auch die neue Werkausgabe, die seit
einem Jahr bei Klett-Cotta in Stuttgart erscheint, nicht wirklich
durchbrechen. Der Schwerpunkt dieses Zwischenwelt-Hefts soll
beitragen, diesem eigentlich unglaublichen Zustand abzuhel¬
fen, daß einer der bedeutendsten europäischen Intellektuellen
der sechziger und siebziger Jahre in dem Land, aus dem man
ihn 1938 vertrieben hat, kaum zur Kenntnis genommen wird.
Seine Essays zur Philosophie nach Auschwitz und zur soge¬
nannten Aufarbeitung der Vergangenheit sind in ihrer Bedeutung
vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor
W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im
Vernichtungslager und unter der Bedingung der Folter stehen
sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich je¬
doch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsch¬
sprachige Öffentlichkeit mit französischen Denkern und
Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert.
Die neue große Ausgabe der Werke Jean Amérys bringt nun
zum ersten Mal in geschlossener Form alle wichtigen Werke und
Schriften, darunter auch das bisher unpublizierte, noch in Öster¬
reich entstandene Romanfragment Die Schiffbrüchigen. Hinzu
kommen eigene Bände mit Briefwechsel und Rezeptions¬
zeugnissen. Damit wird es möglich, die vielfältigen, bisher fast
immer nur getrennt wahrgenommenen Arbeiten im Zusam¬
menhang zu sehen. Durch Abdruck bisher unveröffentlichter oder
in Vergessenheit geratener früher Texte, kann die Entwicklung
von Amerys Denken und Schreiben nachvollzogen werden. Ein
Nachwort erläutert die Texte und kommentiert ihre Entstehung
und Rezeption. Dabei sollen Amerys Werke über eine bloß aka¬
demische Auseinandersetzung hinaus vergegenwärtigt und im
Zusammenhang heutiger Debatten reflektiert werden.
Im Februar nächsten Jahres wird außerdem die große Bio¬
graphie Amerys von Irene Heidelberger-Leonard erscheinen. Wir
danken dem Klett-Cotta Verlag für die Möglichkeit, daraus ein
Kapitel über Amerys frühe Jahre in Österreich sowie Texte aus
dem ebenfalls 2004 erscheinenden Band mit Amerys Aufsätzen
zur Philosophie als Vorabdruck bringen zu können.
Es folgt die Rede, die Doron Rabinovici hielt, als er 2002
in Stuttgart den „Jean Amery-Preis für Essayistik“ bekam, der
auf die Initiative von Robert Menasse gestiftet worden war, und
die Laudatio von Gerhard Scheit. Der Essay von Hans Höller
über den Schriftsteller Amery „als Leser‘ schließt den Schwer¬
punkt ab. Hans Höller hat den Band mit den Aufsätzen zur
Literatur herausgegeben, der eben erschienen ist und die ganze
Vielfalt von Amery als Literaturkritiker zeigt: einfühlsame und
prägnante essayistische Porträts über österreichische Autoren
(Arthur Schnitzler, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard) und
deutsche Schriftsteller des Exils (Heinrich und Thomas Mann,
Arnold Zweig, Hermann Kesten) stehen darin neben scharfen,
kritischen Auseinandersetzungen mit Gustav Freytag, Hamsun,
Georges Bataille und Michel Tournier.
G.S.
Wien, vor und nach dem „Anschluß“
Der Österreicher, der 1938 wie ein Hase gejagt wird, stirbt nicht
wirklich, er nimmt sein Österreich mit, wohin immer es ihn ver¬
schlägt — zuerst im Schmerz und dann im Zorn und immer wie¬
der im Schmerz. Die Heimat fehlt ihm vor allem, weil er sie nicht
hat, nicht haben darf; das „Kindheits- und Jugendland“ wird ihm
plötzlich abgesprochen, als hätte es ihm nie gehört. „Ich war
kein Ich mehr und lebte nicht in einem Wir.“
Dezember 1938, in meiner winzigen Garni-Wohnung in Wien
erschien bei mir und meiner jungen Frau ein Freund, Studien¬
kollege, den es zu den feschen braunen und schwarzen Uniformen
getrieben hatte, und der jetzt in der Provinz ein seinerseits uni¬
formierter ,,Sachverwalter“ war; er gab freundschaftlichen Rat.
Der Rat ist kurz und biindig: Die tiberstandene Kristallnacht
im Nachbarland sei nur der Anfang, er tate gut daran, unver¬
züglich zu verschwinden. Und er verschwindet, „mit aller¬
leichtestem Gepäck“. Allerdings war der hastige Aufbruch zum
Wiener Westbahnhof nur das Ergebnis eines Prozesses, der in
Wahrheit schon mit dem 30. Januar 1933 seinen Anfang ge¬
nommen hatte.
Schlimm ist die Erkenntnis, daß es mit seiner Schriftstellerei,
der er sich doch verschrieben hat, schon vorbei ist, bevor es ei¬
gentlich begonnen hat:
Für den Neuling, und wäre er das Genie gewesen, das ich
weder war noch zu sein mir einbildete, war keine Chance. Er
schrieb für die Schreibtischlade, allenfalls für einen engen
Freundeskreis, er plazierte dann und wann eine Erzählung oder
einen Aufsatz in heimischen Zeitungen und Anthologien, er ver¬
suchte es mit der Herausgabe einer ebenso anspruchsvollen wie
dilettantisch redigierten eigenen Zeitschrift [Die Brücke, d. V.],
er verfaßte einen Roman [Die Schiffbrüchigen, d. V.], dessen
recht merkwürdiges Schicksal nicht die Drucklegung einschloß.
So lebt er zunächst versteckt, befördert und bewahrt sogar
Pistolen und Munitionsvorräte des geschlagenen Republi¬
kanischen Schutzbundes, zieht sich zurück in die „innere
Emigration“. Noch ist er ,, Voll-Osterreicher“, der seinen Dialekt
spricht und den „superlativisch banalen österreichischen Namen“
Mayer führt.
Seit dem Sommer 1934 [sic! Richtig: 1933] gab es einen zum
Nazismus vergleichsweise gemäßigten Faschismus in Österreich.
Ein winziges Männchen namens Dollfuss, den auch der Tod