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lernt er schon Anfang 1939 in Antwerpen kennen. Da gibt es den Wiener Maler Erich Schmid, dem der Erzähler mit seinem Roman-Essay Lefeu oder der Abbruch 1974 ein Denkmal setzen wird — ein Foto aus dem Jahre 1938 (?) dokumentiert die Freundschaft. Man sieht zwei Flaneure, Hans Mayer in hochelegantem Anzug und weißen Gamaschenschuhen, wo man sich eher auf einer Modeschau wähnt als im Antwerpener Elendsviertel der rassisch Verfolgten. Und es gibt den Wiener Arzt Heinz Pollack, eine der wichtigsten Bezugspersonen für Hans Mayer, bis zum Lebensende. Er ist es, der als erster schon 1939 den fatalen Herzfehler bei Gina diagnostiziert, einen Herzfehler, dem sie ein Jahr vor der Rückkehr ihres Mannes aus dem Lager, im April 1944, erliegen wird. Der Krieg bricht aus. „Ich atmete auf“, bekennt der Flüchtling des Wartens auf die Katastrophe müde, denn „dieses Reich des Hasses und der Gewalt“ will er eigenhändig mit „Haß und mit Gewalt“ fällen. „Sind Sie bereit zu kämpfen? ... Niemand ist bereiter als er, der von Komitee zu Komitee läuft, um sich freiwillig zu melden.“ Er sucht Anschluß an den belgischen Widerstand, aber Belgien ist neutral. St. Cyprien - Gurs — Brüssel (1940-41) Es kommt schlimmer. Am 10. Mai wird Belgien von deutschen Truppen überfallen, am 10. Mai müssen sich alle deutschen Männer - in den Augen der Belgier „feindliche Ausländer“ — vor dem Rathaus von Antwerpen einfinden: Hans Mayer, Erich Schmid und Heinz Pollack werden fiinf Tage lang in Malines interniert, bevor sie verhaftet und nach Frankreich deportiert werden. Erste Station ist das provisorische Camp de St. Cyprien (Pyrénées-Orientales). Seine Frau Regina wird mit der Hilfe von Maria Leitner untertauchen. 1947 widmet Maria der 1944 verstorbenen Regina einen Artikel, der unter dem Titel „Belgischer Frühling 1940“ am 25. April in der Wiener Arbeiter-Zeitung erscheint: Seit jener Nacht, als ich Dich vor Kälte zitternd in der kriegsverdunkelten Bahnhofshalle von Brüssel verlassen mußte und Dir aus dem Fenster [...] das letzte Adieu zuwinkte, seit damals habe ich die Erinnerung an den Krieg in Belgien im Mai 1940 in mir getragen und hoffend dem Tag entgegengesehen, an dem wir uns wiedersehen wiirden. Sie sahen sich nie wieder. So denkt Maria Leitner zurtick an die ,sorgloseren Tage’, die sie mit Regina verbringen durfte, an die Abende, „die du uns mit deinen Liedern verschöntest“. Zehn Monate lang teilten sie ihr Versteck in einer Dachkammer, sie waren „die Zeit einer schönen Freundschaft“. Im November 1941 gelang es Maria, in die Vereinigten Staaten zu fliehen. „Ich möchte dich um Verzeihung bitten, daß ich mich retten konnte“, schreibt sie in diesem imaginären Gespräch mit Regina Mayer, „während du dem Sturm preisgegeben warst, und will dir gestehen, daß ich dieser Errettung niemals froh wurde. [...] Ich empfand es fast als unanständig gerettet zu sein. [...] Dein Sterben und der Tod der vielen Millionen unschuldiger Opfer hat uns Geretteten eine Verpflichtung auferlegt, die zu erfüllen uns erstes Gebot werden muß: zu kämpfen für die Menschwerdung des Menschen!“ Auf dem Weg nach St. Cyprien, so Heinz Pollack in einem Gespräch mit der Verfasserin, habe es ein Gerücht gegeben, daß die Franzosen alle Gefangenen mit Ausnahme der jüdischen Männer sofort an die Deutschen ausliefern würden. Es werde also überprüft werden müssen, wer beschnitten sei und wer nicht. Hans Mayer ist es nicht. Von panischer Angst ergriffen, man werde ihm sein Judesein nicht glauben, fleht er den Freund und Arzt Pollak an, er möchte ihm doch in dieser Angelegenheit „helfen“ — „vielleicht könne man ja eine Beschneidung vortäuschen‘“. Pollack konnte nicht helfen, aber die Angst sollte sich als unbegründet erweisen, die Untersuchung fand nicht statt und sie wurden den Deutschen nicht ausgeliefert. Beim Weitertransport N = eve sa) IE oder Der Abbruch Roman-Essay eet Aus: Claudia Widder, Roland Widder (Hg.): Erich Schmid. Wien 1908 — Paris 1984. Weitra 2002, S. 40 45