OCR
kenntnis dessen, was sich nicht einmal tarnte. Der Judenboykott der Apriltage war schon in Szene gegangen. Wer es wissen wollte, mußte erfahren haben, wie es zuging in den Kellern der SAKaserne in der General-Pape-Straße in Berlin. Man sprach sehr viel vom Konzentrationslager Oranienburg. Schon hatte der Begriff der Schutzhaft jenen Sinn bekommen, der bis heute der seine ist. Daß eine große Anzahl von Kollegen Heideggers sei es aus rassischen, sei es aus politischen Gründen ihre Lehrstühle verloren und viele von ihnen im Ausland Schutz suchten, konnte ihm unmöglich verborgen geblieben sein. Einer seiner begabtesten Schüler, Karl Löwith, mußte emigrieren. Edmund Husserl, dem das Werk Sein und Zeit gewidmet war, stand als ein einsamer alter Mann da. Heidegger kann unmöglich den Völkischen Beobachter nicht gesehen haben, noch ist denkbar, daß ihm die Existenz eines Periodikums Der Stürmer ganz entgangen ist. Die zehnmonatige enge Verbindung Heideggers mit der Naziherrschaft läßt gewiß nicht die Wesenszüge des ganzen Heideggerbildes erkennen: sie kann jedoch aus diesem Bilde nicht wegretouchiert werden. Es wird noch davon die Rede sein, daß Heideggers Neigung zu Hitler nicht so einfach ein enthusiastischer Irrtum war, wie etwa Lissauers Haßgesang gegen England im ersten Weltkrieg, daß hingegen dieses Lehrers Gelehrigkeit, die zur Unbelehrbarkeit wurde — denn der Denker hat seine Eskapaden niemals explizit desavouiert — in sehr tiefen Schichten seiner Person und seiner Lehre griinden. [...] Sehe ich richtig, dann hat Martin Heidegger sich von dem Nationalsozialismus, von dem er glaubte, daß er der seine sei, niemals abgewendet: weder vor dem Zusammenbrueh des Hitlerreiches, noch danach. Was für ein Nationalsozialismus kann dieser gewesen sein? Die Scheußlichkeit des Regimes hatte mancherlei Wesenselemente. Da war der kleinbürgerlich-provinzielle Ressentiment-Nationalsozialismus, der namentlich in den Jahren vor der Machtergreifung die Ideologie von Hitlers Anhängern inspirierte; da war, sehr im Gegensatz dazu, der durchaus proletarische Elan der „braunen Bataillone“, der freilich bald erlahmte, ohne daß allerdings alle seine Spuren ausgelöscht worden wären; da war die technizistische Vorstellungs- und Aktionswelt, die als „pure Sachlichkeit“ (im Sinne Hermann Brochs) des technisierten Apparates und seiner umgreifenden Organisation während des Krieges völlig die Oberhand gewann; da war wohl auch der nur durch strikt wissenschaftliche Forschungsarbeit erhellbare Sadismus des Gestapo- und SS-Reiches. Heideggers Nationalsozialismus, dem der Denker 1933 aufsaß, und von dem er noch nach 1945 nicht wissen wollte, daß er ihm aufgesessen war, konnte kein anderer gewesen sein, als der provinziell-ressentimentäre, die Blut-und Boden-Ideologie, die uns so erschreckend entgegenblickt aus dieses Denkers hilflosen und beschämenden poetischen Versuchen. „Dieselben Acker und Wiesenhänge begleiten den Feldweg zu jeder Jahreszeit mit einer stets anderen Nähe. Ob das Alpengebirge über den Wäldern der Abenddämmerung wegsinkt, ob dort, wo der Feldweg sich über eine Hügelwelle schwingt, die Lerche in den Sommermorgen steigt (...) ob ein Holzhauer beim Zunachten sein Reisigbündel zum Herd schleppt, ob Kinder die ersten Schlüsselblumen am Wiesenrain pflücken, ob der Nebel tagelang seine Düsternis und Last über die Fluren schiebt, immer und von überall her steht um den Feldweg der Zuspruch des Selben: das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen.“ Die Zeilen stammen aus Heideggers siebenseitigem Text „Der Feldweg“, der 1949 erschien. Durchaus hätte dieser Absatz seinen Platz in dem von Walter Killy herausgegebenen und kommentierten, recht amüsanten, wiewohl schon etwas überholten 54 Büchlein Deutscher Kitsch. — Es gibt überdies noch viel Drastischeres, wie etwa Heideggers gleichfalls nach dem Kriege geschriebene Verse und freie Rhythmen: „Wenn es von den Hängen des Hochtals, darüber langsam die Herden ziehen, glockt, gloekt, glockt ... Wälder lagern, Bäche stürzen, Felsen dauern, Regen rinnt, Fluren warten, Winde wehen, Segen sinnt.“ Das „glockt“ fürwahr trübselig genug, insonders wenn man an einen anderen dichtenden Philosophen denkt: an Friedrich Nietzsche, dem poetische Strophen gelangen. Heidegger ist ein schwacher, um nicht klar zu sagen: ein miserabler Poet, und zwangläufig stellt man sich die Frage, ob sein Philosophieren wirklich etwas anderes ist als eine durch ein Leben sich ziehende Ersatzfunktion, die für das mißratene Gedicht und die unoriginelle Prosa steht. Die Frage ist von jedermann sofort mit einem deutlichen und indigniertem Nein zu beantworten. Heideggers philosophischer Anspruch ist bereits von der Geistesgeschichte ratifiziert worden. Sein Dichten hält noch der tolerantesten Kritik nicht stand: vor seinem Denken hat der radikalste Gegner sich in Achtungsdistanz zu halten. Dennoch besteht eine untergründige Querverbindung zwischen dem kleinen Dichten und dem großen Denken — und sie ist es, die uns Aufschluß über Heideggers nazistischen Irrtum, richtiger: seine nazistische Verirrung zu geben vermag. Robert Minder hat in seiner hier mehrfach zitierten Studie Heidegger eine „Friederike Kempner des Hochschwarzwalds‘ genannt und hat über diesen denn doch die Sache nicht ganz treffenden Scherz hinaus Heideggers fatale Heimatverwurzelung so charakterisiert: „Mit den Farben einer Buntpostkarte und dem Schmelz des Dreimäderlhauses wird das Landleben zur zeitlos gültigen, ewig unveränderten Lebensform umstilisiert — zu einer heroischen Idylle mit Mutterlaut, Männermut und urtümlichem Brauchtum, als Summe der völkischen ,Gemeinschaftswerte‘. — Ein Bauerntum, wie es nie existiert hat (...) Quelle, Kraftquelle, Jungbrunnen: das ist ein Grundbegriff dieses Stils und bildet gewissermaßen das männliche Gegenstück zum anderen Grundbegriff der Wurzel, des weiblich-passiv mit dem Boden Verflochtenen, jener Einwurzelung, die Heidegger am Nazismus nicht laut genug rühmen konnte (...) Heidegger macht die Mystifikation noch 1955 mit, wenn er zur 175. Geburtstagsfeier des Meßkircher Musikers Conradin Kreutzer das Wort ergreift, sein Werk auf die ‚Grundkräfte des heimischen Bodens‘ reduziert und danach die besorgte Frage stellt: ‚Gibt es noch wurzelkräftige Heimat, in deren Boden der Mensch ständig steht, das heißt: boden-ständig ist?“ Dergleichen „Heimat“ gibt es nicht mehr, natürlich nicht, gab sie auch nicht, als Heidegger zu denken anfing, denn schon damals war Europas, war Deutschlands Herz, wenn diese Metapher erlaubt ist, ein nicht mehr agrarisches, vielmehr ein industrielles und stand die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Umprägung des Bauern in den sich mit einem Maschinenpark ausstattenden farmer auf der Tagesordnung. Hingegen gab es das sozial bereits einigermaßen unbehauste provinzielle Kleinbürgertum, das sich den ideologischen Oberbau über sein gesellschaftlich bedingtes, gegen die moderne Industriewelt sich stauendes Ressentiment in schlechter dichterischer und abscheulicher politischer Sprache errichtete. Nur in dieser? Leider nicht. Der ressentimentgeladene deutsche Provinzkleinbürger, sofern er akademische Bildung sich angeeignet hatte, meldete seinen Bedarf an nach einer philosophischen Sprache, hinter der er seine sehr realen und legitimen gesellschaftlichen Befürchtungen kaschieren konnte. Es wurde ihm nicht nur eine solche offeriert: eine ganze Anzahl philosophischer, beziehungsweise pseudophilosophischer Sprachen lagen dem unbehausten oder um sein