OCR
ebenso, auszusparen, was nicht ins Bild paßt und ausgeblendet werden muß, um den Blick auf anderes zu schärfen. Ich entsinne mich, vor einiger Zeit mit einem älteren Bekannten durch die Straßen Wiens gegangen zu sein. Mit einem Mal sprach uns ein mir Fremder an, hocherfreut, meinen Freund zu sehen. Zehn Minuten lang redeten sie miteinander, unterhielten sich über die Weltwirtschaft und die politischen Verhältnisse in Österreich. Es war ein trautes Wiedersehen. Als wir weitergingen, fragte ich, wer dieser Mann gewesen sei. Mein Bekannter schaute sich erst um, flüsterte dann. „Ich habe keine Ahnung mehr, aber — ich habe eine gute Erinnerung an ihn.“ Gedächtnis und Vergessen scheinen zuweilen so eng verwoben zu sein, daß zwischen ihnen kaum unterschieden werden kann, doch sollte dies nicht dazu führen, jene, die nicht erinnern können, mit jenen zu verwechseln, die uns vergessen machen wollen. Über das Wesen der Wahrheit, ja ebenso, ob es überhaupt eine einzige gibt, läßt sich streiten, aber die Existenz der Lüge steht außer Diskussion. Das gegenwärtig praktizierte Gedenken wird zurecht kritisiert, denn es ist zu bezweifeln, daß es imstande ist, die Sinne zu schärfen. Denkmäler sind Wegmarken des Vergessens. Achtlos wird daran vorbeigegangen. In Österreich sollte vor Jahren ein antinazistisches Monument errichten werden. Kaum war der junge Architekt daran gegangen, sein Projekt zu vollenden, einen Kubus aus blauem Plexiglas aufzustellen, da regte sich Protest. Das Bauwerk, hieß es, würde sich nicht in die Umgebung fügen. Es war nicht unsichtbar genug. Doch mittlerweile wird das Gedenken kritisiert, um es gegen jegliche Erinnerung auszuspielen, und längst wird aufklärerische Kritik an historischen Verstrickungen als sogenannte Auschwitzkeule diffamiert. Jean Amery wußte bereits in den sechziger Jahren, wie es einmal gewesen sein wird: „Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wort verstanden werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten ... Wir Opfer müssen, fertigwerden‘ mit dem reaktiven Groll, in jenem Sinne, den einst der KZ-Jargon dem Worte, fertigmachen‘ gab; es bedeutete soviel wie umbringen. Wir müssen und werden bald fertig sein. Bis es soweit ist, bitten wir die durch Nachträgerei in ihrer Ruhe Gestörten um Geduld.“ Doch wer sich lauthals nach einem Schluß der Debatte sehnt, sorgt auf diese Weise für nichts als den Auftakt zur neuerlichen Ouvertüre. Vergessen kann nicht einfach verordnet werden. Es ist, als würde einer in einem vollen Saale ausrufen: „Bitte, denken Sie jetzt fünf Minuten nicht an Läuse und auf keinen Fall an ein Jucken im Haar.‘ Sogleich kratzen sich nicht wenige am Kopf. Jeglicher Aufruf zum Vergessen mündet in einen Sturm der Entrüstung und in eine Flut an Erinnerung, wohingegen der Staatsakt der Erinnerung zumeist in vollkommener Selbstvergessenheit zelebriert wird. Komplizierter werden die Verhältnisse noch durch die Banalisierung der Erinnerung, gegen die sich Amery bereits wehrte. Manche Antizionisten behaupten etwa, die Israelis wären die Nazis von heute. David Ben Gurion scheute sich hingegen nie davor, Menachem Begin in die Nähe von Adolf Hitler zu rücken. Menachem Begin wiederum schrieb während des Libanonkrieges einen Brief an Ronald Reagan, in dem er erklärte, er habe beschlossen, Truppen nach Beirut zu schicken, um Hitler zu besiegen. Der Schriftsteller Amos Oz antwortete Begin: „Herr Premierminister, Hitler ist bereits tot.“ Benjamin Netanjahu verglich die heutige Assimilation in der 60 Diaspora mit der Vernichtung. Yassir Arafat beschuldigte heuer die israelische Armee, sich nazistischer Methoden zu bedienen. Der portugiesische Dichter Jose Saramago besuchte vor kurzem die palästinensischen Gebiete und setzte gar mit Auschwitz gleich, was unter israelischer Besatzung geschieht. In Deutschland und Österreich haben solche Vergleiche einen eigenen Geschmack, denn sie verführen zur Umkehr von Täter und Opfer. Jeder Rückgriff auf das Arsenal der Vorurteile, beginnt heutzutage mit dem entlarvenden Klageruf, es könne einer ja gar nichts mehr gegen Juden sagen. Ein merkwürdiger Streit wogte in Deutschland während des letzten Jahres. Ein Politiker warf einem Juden vor, am Antisemitismus selber schuld zu sein, und damit war er ja wohl ziemlich gemäßigt, denn früher hatte es doch noch geheißen, der Jude sei schlechthin für alles Unheil der ganzen Welt verantwortlich. Der Parteimann konnte mit seiner Kampagne keinen Erfolg erringen, und diese Tatsache darf befriedigen. Wie hätte Jean Amery reagiert auf dieses Jahr 2002? Hätte er geschwiegen zu den Angriffen gegen jüdische Einrichtungen in Europa? Gewiß, die jüdischen Gemeinden des Kontinents blühen auf, zeigen sich selbstbewußter denn je, und manche mögen einwenden, die Angriffe auf Synagogen und Friedhöfe waren lediglich Einzelfälle, die wenig mit dem traditionell abendländischen Antisemitismus zu tun haben, sondern bloß mit dem Konflikt im Nahen Osten, da sie nicht selten von muslimischen Jugendlichen durchgeführt wurden. Na und? Ist es denn nicht antisemitisch, die Parole „Juden raus‘ auf ein Gemeindezentrum zu sprühen, solange der Täter kein sogenannt echter Europäer ist; was immer ein echter Europäer sein soll? Keineswegs; jeder kann ein Rassist sein, egal woher er stammt, und der Begriff „Antisemitismus“ richtete sich von Anfang gegen nichts als den Juden. Was an vielen Demonstrationen gegen Israel erstaunt, ist nicht bloß, daß sie sich zuweilen gegen jüdische Institutionen richten. Es fällt auf, daß bei diesem Thema Gruppen zueinander finden, die in anderen Fällen keinen Zentimeter zusammen gehen würden. Ob kurdische Kommunisten, türkische Nationalisten, Islamisten, Neonazis oder Linksradikale, in dieser Frage gibt es eine merkwürdige Einigkeit. Weshalb schlagen bei anderen Kriegen Solidaritätsmanifestationen kaum in Aggressionen gegen die europäische Diaspora einer Seite um? An der Zahl der Opfer oder daran, daß sie Muslime waren, kann es nicht liegen. In Tschetschenien, Bosnien, Ruanda, Indien oder im Sudan waren jeweils mehr Tote zu beklagen, und zumeist starben dort ebenfalls Moslems. Es ist offensichtlich, daß der Konflikt sich von allen anderen in einem wesentlichen Punkt unterscheidet. Es geht um Juden. Um nicht mißverstanden zu werden; zweifellos wird der Verweis auf den Antisemitismus von manchen israelischen Politikern mißbraucht, um Kritik an Jerusalem, auch bitter notwendige, sachliche, zu diffamieren. Die ganze Welt scheint dann Feindesland zu sein. Zugleich wird nicht selten auf das Vorgehen der israelischen Regierung verwiesen, um antijüdische Vorfälle in Europa zu beschönigen. Solche wechselseitigen Aufrechnungen und Verquickungen sind ein kurioses Ringelspiel, das uns wohl noch lange unterhalten wird. Das ganze Werkl orgelt und dreht sich in einem fort und bleibt doch am selben Fleck. „Schön ist so ein Ringelspiel, das is a Hetz und kost net viel“, weiß das Wienerlied. In der Donaustadt liegt die Metropole aus Karussell und Riesenrad. Der Wurstlprater auf der Mazzesinsel, ein Reigen der Angstlust. Im Film „Vienna is different“ von Susi Korda steht eine ältere Jüdin, Sonja Oster, vor einer Geisterbahn