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mit ihren Gerippen und Riesenkraken. Sonja sagt: „Als ich klein war, kam ich hierher, um mich zu fürchten. Später gab es das überall gratis.“ Jean Amery hätte nicht geschwiegen angesichts antisemitischer Ereignisse. Er sah klar und wies uns darauf hin, was jenseits des Nahen Osten und westlich von Auschwitz geschah; er sah sternklar. Er war kein Mann weihevoller Gedenkstunden und pathetischer Festakte, aber vielleicht erinnere ich mich eben deshalb noch so gut an den Klang seiner Stimme, die ich damals als Jugendlicher hörte. Und seine Worte dringen bis heute zu mir. Meine Damen und Herren, lieber Doron Rabinovici: Den Denkern, sagt Jean Améry, ,,sitzt allerwegen die Furcht vor der Banalität im Nacken — etwa der Banalität, Opfer Opfer und Quäler Quäler sein zu lassen, wie sie es beide waren, als geschlachtet wurde.“ Diese Bemerkung Jean Amerys ist gegen die Denker der Frankfurter Schule ebenso wie gegen Hannah Arendt gerichtet. Sie haben die Trennungslinie zwischen Tätern und Opfern zu wenig scharf gezogen, sie mitunter willentlich verwischt — so lautet der Vorwurf, den Ame£ry seit Jenseits von Schuld und Sühne immer wieder erhoben hat. Bei Jean Paul Sartre hingegen fand er eine Sprache, die gerade eine solche scharfe Trennung ermöglichte — und nicht zuletzt darum ist Améry zum ‚Wahlfranzosen‘ geworden, zum französischen Existentialisten österreichisch-deutsch-jüdischer Herkunft. Diese Notwendigkeit der durchaus undialektischen Trennung von Opfern und Tätern hat Amery wie kein anderer betont, indem er ganz bewußt seine Existenz als jüdisches Opfer des Nationalsozialismus erhellt hat, und sie mitunter sehr polemisch einem vorschnellen Menschheitsbegriff und einer das Ganze beschwörenden Dialektik entgegenstellt. Durch sie bekommen die Schriften dieses Autors eine gedankliche und moralische Schärfe, die ihresgleichen sucht unter den Essayisten seiner Zeit. Linksintellektuellen meiner Generation, die dank Amery diese Notwendigkeit endlich begriffen haben und so einfach nicht mehr, bei welchem Gegenstand auch immer, von ihr absehen können, ist der französische Existentialismus als Denk- und Ausdrucksform einigermaßen ferne gerückt. So suchen viele nach anderen Ausdrucksweisen — etwa in der wissenschaftlichen Forschung, in der Zeitgeschichte. Im Vorwort zu seinem Buch Instanzen der Ohnmacht, das von den Judenräten im Nationalsozialismus handelt, schreibt Doron Rabinovici: Das Thema „läßt mich seit Jahren nicht los. Die Diskussion um die Judenräte rührt an das jüdische Selbstverständnis nach 1945 und verdeutlicht zudem mehr als alles andere, daß der Mensch durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik sogar noch der Würde des Opfers beraubt wurde. Davon leichthin zu erzählen war mir nicht möglich. So versuchte ich der Materie mit Wissenschaftlichkeit beizukommen, wobei ich wußte, daß dadurch vieles nicht zur Sprache kommt.“ Das ist als Beginn einer wissenschaftlichen Arbeit auf dem Gebiet der Zeitgeschichte ungewöhnlich: nicht nur bringt der Autor sich selbst ins Spiel, das mag als persönliche Vorbemerkung noch hingehen, er eröffnet vielmehr das Buch wie einen Essayband, um sogleich festzuhalten, daß vieles nicht zur Sprache kommen kann, weil es sich eben nicht um Essayistik handelt. Der Autor bringt den Widerstand zur Sprache, der sich ihm vom Gegenstand entgegenstellt, das Thema läßt ihn nicht los, davon leichthin zu erzählen, ist ihm nicht möglich. Das ist die Konstellation, der sich alles wesentliche, was in Literatur, Essay oder Wissenschaft gesagt werden kann, verdankt. Aber der Grund, warum jemand etwas nicht losläßt, warum von ihm nicht leichthin erzählt werden kann, ist immer ein ganz spezifischer. Doron Rabinovici wurde in Israel geboren — Zufluchtsstätte der vom Nationalsozialismus Verfolgten —, kam als dreijähriges Kind mit seinen Eltern nach Österreich. Das Thema seines Buches über die Judenräte ist die Situation des Opfers unterm Nationalsozialismus — eine Situation, die unsichtbar zu machen, die Öffentlichkeit in seiner neuen Heimat angetreten schien. Es hängt mit dieser Nähe zum Thema zusammen, daß Doron Rabinovici einerseits die Wissenschaft wählt, um Abstand zu gewinnen, daß er andererseits aber davon weiß, was durch wissenschaftliche Abstraktion, „nicht zur Sprache kommen kann“. Zunächst: es kommt sehr vieles hier zur Sprache, in diesem Buch über die Instanzen der Ohnmacht. Die Lage der Judenräte im Dritten Reich wird am Beispiel der Wiener Situation, die ja nicht irgendein willkürlich gewähltes Beispiel ist, minutiös rekonstruiert. Schließlich wurde Wien von den Nationalsozialisten als Modellfall für die Vorbereitung der Vertreibung, Deportation und Vernichtung in ihrem ganzen Herrschaftsbereich betrachtet. Die Notwendigkeit, Täter und Opfer zu trennen, ist die Fragestellung des Ganzen: können Täter und Opfer klar geschieden werden angesichts der Zusammenarbeit von Nazis und Judenräten? Damit führt der Autor auf dem Terrain der Zeitgeschichte die Auseinandersetzungen mit Hannah Arendts Buch über Eichmann in Jerusalem fort — nicht zuletzt hatte ja auch Jean Amery an dieser Auseinandersetzung mit knappen, aber sehr scharfen Bemerkungen teilgenommen. Das Buch markiert in der Distanz, die es zu diesen Auseinandersetzungen hat, neue Möglichkeiten der Differenzierung, gerade was die Kritik an Arendts Stellung zu den Judenräten betrifft: Rabinovici hält Arendt entgegen daß sie die besondere Situation der Judenräte im Vergleich zu den wirklichen nichtjüdischen Tätern übergangen hat: „Hätte nicht just Hannah Arendt dies vor allen anderen hervorstreichen müssen; hatte sie nicht in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft geschildert, weshalb die Opfer der von ihr beschriebenen Systeme zur Kooperation gezwungen werden konnten? Widersprach sie nicht mit ihrer Kritik an den jüdischen Funktionären ihren eigenen Erkenntnissen?“ Doron Rabinovici wird Hanna Arendt dabei auf neue Weise gerecht, indem er ihre Erschütterung, die sie durch die Figur Eichmanns erlebt hat, Verkörperung des Endes aller Vernunft, 61