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und alles, was du in der Erinnerung versäumst, ist verloren und für immer vorüber.“ Aber Jean Amery hat nicht nur Jenseits von Schuld und Sühne geschrieben. Das in vollem Ausmaß bewußt zu machen, dient nicht zuletzt die neue Werkausgabe. Es finden sich Essays aus seiner Feder, die dem Nichtidentischen sich ganz anders zuwenden: nicht als äußerstem Widerspruch, Erfahrung in extremis, sondern als Erfahrung im Kleinen, Identitätsabweichung im Alltäglichen: die Ironie etwa, mit der seine Jugend in Österreich beschrieben wird oder das dürftige Eheleben von Monsieur Dupont, Dubois oder Duval; das Altern und das Sterbenwollen, angesichts der vielen Unerträglichkeiten des Alltagslebens, an dem das politische Engagement spurlos vorbeigeht. Und hier zeigt sich nun doch die größte Differenz in den Stimmungen, worin Rabinovici das Alltägliche mitteilt - zum Beispiel Situationen seiner Jugend: die Möglichkeiten der Entwicklung erscheinen offen, trotz der Erinnerung an die Vernichtung, wie in einem bewußt gewordenen Widerspruch zu ihr. Ich denke, diese ganz anderen Stimmungen hängen wie vermittelt auch immer mit der Herkunft des Autors zusammen: Doron kommt in den sechziger Jahren von Israel nach Österreich; die Existenz jenes Landes seiner Geburt, die Freunde und Verwandten, die er dort weiterhin hat, geben ihm so etwas wie ein Weltvertrauen, das aber nicht naiv sein kann, in sich gebrochen sein muß: es kann den totalen Verlust des Weltvertrauens, den Ame£ry bezeugt, nicht verleugnen. Es bleibt ein Vertrauen, das mit allem rechnet, insbesondere in der neuen Heimat Österreich. Alles, was in diesem Land und sonst auf der Welt geschieht, kann aber „im Widerschein Israels“ betrachtet, also reflektiert werden und darin konstituiert sich ein neues Selbstvertrauen, das Amery in seinem Engagement für Israel angekündigt hatte, das zu realisieren ihm aber unmöglich war. Dazu fehlte ihm die Jugend, eine Kindheit. Und so drückt sich Rabinovici sehr jugendlich aus, wenn er über Israel spricht. Das in sich gebrochene Vertrauen ist ohne den Schock über den Verlust allen Vertrauens, der sich in Amérys Essay niederschlug, nicht denkbar. Ohne Israel, sagt Rabinovici, „hätte sich die Situation der Juden nach dem nationalsozialistischen Massenmord kaum verändert. Sie wären Geduldete, bestenfalls Bemitleidete, zumeist jedoch Verachtete.‘“ Das hat Amery ganz ähnlich ausgedrückt, aber eine neue Art von konkretem Selbstbewußtsein tritt nun hinzu, das sich der ein halbes Jahrhundert umspannenden Existenz Israels verdankt — das Wissen, „daß mit der Erfüllung zionistischer Sehnsüchte die Diaspora an Kraft gewinnen würde, an Selbstbewußtsein, nicht bloß gegenüber den Nichtjuden, sondern ebenso gegenüber Israel.“ Der Essay, der den Titel „Im Widerschein Israels“ trägt, zeugt allerdings noch von einer anderen Situation des Landes, er ist indirekt von den Hoffnungen des Friedensprozesses getragen. Inzwischen erscheint das düstere Bild vom bedrohten Israel, das Amery gezeichnet hat — wenn auch unter anderen weltpolitischen Bedingungen — plötzlich wieder viel näher gerückt. Für Doron Rabinovici ist das Judentum kaum je eine Unmöglichkeit gewesen - in dem Sinn, in dem es Amery für sich selbst festhält —, aber den Zwang, Jude zu sein, blendet er darum nicht aus. Es ist, als würde er beständig sagen: Wie auch immer ich mich zur jüdischen Religion verhalte, es gibt diesen Zwang, der aus der Erfahrung der Vernichtung resultiert, es gibt ihn wie den kategorischen Imperativ, alles zu tun, damit Auschwitz sich nicht wiederhole. Da dieser Zwang nicht weiter ableitbar ist, in keinem eigentlichen Verhältnis zur Religion steht, ist auch ein anderes Verhältnis zu ihr möglich als das der bloßen Unmöglichkeit. Sie wird im guten bürgerlichen Sinn fast zu einer Privatsache. Das betrifft aber doch nur die jüdische Religion, Rabinovici erkennt im Unterschied dazu nur allzu deutlich die Fatalität der christlichen als einer solchen Privatsache - frei nach Gotthold Ephraim Lessings Frage: „Wie aber wenn es bei der einen Nation ein Religionspunkt und beinahe ein verdienstliches Werk wäre, die andre zu verfolgen?“ Bei Amery war die Erinnerung die Rebellion, „Ich rebelliere“, sagte Amery: „gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren läßt und es damit auf empörende Weise verfälscht“. Bei Rabinovici findet sich diese Rebellion selbst schon als Erfahrung reflektiert - und in den Zusammenhang einer Gesellschaft gerückt, die von ihr sich nicht mehr beeindrucken lassen will. „Wenn die letzten jener gestorben sind, die der Vernichtung einst entrannen, muß damit gerechnet werden, daß die Sogkraft der neonazistischen Lügner, der Reiz zur Leugnung und Verharmlosung stärker werden.“ Die Bücher und Essays von Doron Rabinovici setzen jener Sogkraft Widerstand entgegen, sie polemisieren gegen alle Zeitgenossen, die sich dem Sog ganz hingeben und ihn sogar noch verstärken. Der Widerstand, der bei Améry die Ziige eine existentialistischen Rebellion mit aufsehenerregenden Konsequenzen fiir die deutsche Offentlichkeit hatte, ist hier ein zäher, z.T. in der Wissenschaft, z.T. in literarischen und philosophischen Kreisen ausgetragener Grabenkampf. Die geschichtliche Situation, wird dabei mit einer Kritik vermittelt, die sich die Analysen der Kritischen Theorie ebenso zu eigen gemacht hat wie die Fragestellungen der inzwischen angewachsenen historischen Forschung. Aber sie gibt der Abstraktion von subjektiver Erfahrung, die in der Kritischen Theorie immer wieder durchschlägt, sowenig nach wie der Ten63