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teilgenommen haben. 1934 gibt er, damals noch unter seinem ersten Namen, gemeinsam mit seinem Freund Ernst Mayer eine Zeitschrift mit Erstveröffentlichungen österreichischer Autoren und literarischen Betrachtungen, „Die Brücke“, heraus. In die Mitte der dreißiger Jahre fällt auch die Niederschrift des Romans „Die Schiffbrüchigen“. Ein Auszug aus diesem Roman erscheint im „Jahrbuch 1935“, das der bekannte Wiener Literat Hermann Hakel redigierte.'' Die dreißiger Jahre, das kulturelle Klima in der österreichischen Metropole, die Bedeutung der Literatur, mitgetragen von der volksbildnerischen Arbeit des „Roten Wien“, die philosophischen Studien im Umkreis des neopositivistischen Wiener Kreises, von Moritz Schlick und Rudolf Carnap, das Bekanntwerden mit den großen epochalen Romanen von Proust, Musil, Canetti, Broch, Thomas Mann und Heinrich Mann, Romain Rolland — die Prägungen durch diese literarisch-philosophischen Bildungsjahre gehen ihm nie mehr verloren: sowohl im Insistieren auf analytischer Vernunft und logischer Deduktion wie in der aufklärerisch pädagogischen Haltung, die noch für seine späten Essays charakteristisch ist. Die gern in den literarischen Essays mitgelieferten Werkeinführungen, die biographischen Skizzen und Inhaltsangaben, verbunden mit der Ablehnung jeglichen Begriffsapparats, der das Werk verstellen könnte, sind Beispiele dieser pädagogischen Aufmerksamkeit für die Grundlagen eines erhellenden Gesprächs über Literatur. „Ganz knapp sei darum hier notiert, was uns über die Person dieses Schriftstellers, bezogen auf sein Werk, ein exemplarisch autobiographisches, als wissensnötig, wissenswürdig scheint“, lautet einer dieser freundlich unterweisenden Formeln." „Zu sprechen ist noch“ vom Zeithintergrund. „Ein Wort noch“ zur geschichtlichen Atmosphäre. Mythen werden kritisch befragt, die bisherige Rezeption wird kritisiert, die Geschichtlichkeit des Lesers zu bedenken gegeben, und immer wird die Kunst als Moment gesellschaftlicher und, wie man heute sagen würde, alltagsweltlicher menschlicher Praxis ernst genommen - alles Elemente eines kritisch pädagogischen Literaturverständnisses, das ihm aus der Volkshochschule Wien-Volksheim und Wien-Leopoldstadt oder aus der Redaktion der „Brücke“ geläufig war." Aber das antisemitische Wien der dreißiger Jahre war für den jungen Leser, der aus dem Salzkammergut in die Metropole gekommen war und zu begreifen begann, was es bedeutete, Jude zu sein, keine geschätzte pädagogische Provinz. Die moderne Literatur und die neopositivistische sprachkritische Philosophie befanden sich im ständestaatlichen Österreich selbst im „heimatlichen Feindesland“, und in Deutschland war der Nationalsozialismus an die Macht gekommen. Der „Wolf draußen und die Füchse im Haus“, so beschreibt Amery in „Unmeisterliche Wanderjahre“ die Situation des Lesers, der „während er befaßt war mit dem “Tractatus’ oder Carnap oder Schlick oder Neurath, was immer ihm an Emigrantenliteratur in die Hände geriet“, verschlang und „gleich einem Trunksüchtigen“ sich dem „Debakel“ entgegenlas.' Der Einmarsch der Hitlertruppen in Österreich, 1938, zwingt Amery zur Flucht. Er geht nach Belgien, das zwei Jahre später von den Deutschen Truppen tiberfallen wird. Nach Aufenthalten in verschiedenen Internierungslagern schließt sich Améry dem Widerstand an. Er wird als Widerstandskämpfer festgenommen, gefoltert, kommt als Jude und Angehöriger der belgischen Resistance in verschiedene Konzentrationslager, ein Jahr auch in Auschwitz-Monowitz. Jean Amery hat sich später, in einem Essay im Jahr 1966, gefragt, welchen Stellenwert die geistig-literarische Bildung, 66 die doch Teil seines Ich ist, für die Selbstbehauptung unter den Bedingungen des Vernichtungslagers eingenommen habe. „An den Grenzen des Geistes“, so der Titel dieses Essays, an der „Grenzsituation“ Auschwitz also, mußte er die „Wirklichkeit und Wirkungskraft‘ jener spezifisch literarischen Geistigkeit „für nichtig“ „erklären“. „Es führte keine Brücke vom Tod in Auschwitz zum „Tod in Venedig“. Aber der etwas rhetorische Satz spricht doch nicht wirklich gegen die Literatur. Es führte ja auch keine Brücke vom normalen Alltagsverhalten und von allen lebensnotwendigen menschlichen und sozialen Sicherheiten zum tödlichen Alltag in Auschwitz. IV Das auffallende aufklärerisch-pädagogische Element in Amerys späteren Literatur-Essays, das vielleicht auf Amerys kulturelle Sozialisation im Roten Wien der Zwischenkriegszeit zurückführt, nimmt im „danach“ des späteren Werks von Amery noch eine andere Bedeutung an: es erscheint nun, nachdem der Schreibende um den am eigenen Leib erfahrenen Verlust aller Sicherheiten weiß, wie ein Entwurf einer kommunikativen Utopie, in der Autor und Leser ein Miteinander bilden, in dem sich der Autor im Leser und der Leser im Autor anerkannt weiß, wo die Wände zwischen Kunst und Leben verschwinden und das von Am£ry oft erwähnte arme kreatürliche Menschenkind sich freundlich angenommen weiß. Eine Welt der Sicherheiten und gegenseitigem Versicherungen in einem Gespräch, das es erlaubt, noch den gestauten Schrecken des unauslöschbaren Traumas zur Sprache zu bringen. „Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, so könnte man nicht zuletzt auch Amerys literaturkritische Essays und seine essayartigen Romane nennen. Helmut Heißenbüttel hat in der „imaginären Jenseitigkeit der künstlerischen und literarischen Erfindung“ bei Amery einen „Weg ins Freie“ sehen wollen, der „als Möglichkeit freier Entscheidung neben dem Freitod‘ zu situieren wäre. Obwohl HeiBenbüttel damit eher die spezifisch erzählerisch-essayistischen Texte Amérys im Auge hat, also die Texte, in denen er durch die „halluzinative Aufladung und Aufwertung der literarischen Erfindung“ eine Gegenposition der Ästhetik“ sieht'‘, lassen sich diese Überlegungen auf die literaturkritischen Arbeiten Amerys übertragen, zumal diese ja mit fiktiven Inszenierungen und spezifisch dichterischen Formen der Ich-Entgrenzung spielen. „Die Bergwanderung, die ich unternehme, wird den Blick des langsam Ausschreitenden vielleicht sogar träumerisch machen, wer weiß“, heißt es im Thomas-Mann-Essay mit dem Titel „Bergwanderung‘“.'’ In seinem „Oudenaarde“-Projekt wollte Améry einen Helden namens „Vanderleyden“ ins Zentrum des geplanten Werks stellen. Er macht sich mit dem Wagen auf den Weg, seine jung verstorbene Frau zu treffen, nachdem sie ihm in immer wiederkehrenden Träumen Ort und Zeitpunkt eines Rendezvous benannt hat. Sie trägt den Vornamen Litta, eigentlich Littera, „infolge einer Marotte ihres literarisch dilettierenden Vaters“. „Unterwegs nach Oudenaarde“, dem angegebenen Treffpunkt, begegnet Vanderleyden all den Gestalten aus der Literatur und all den „längst verstorbenen Autoren, zu denen wir durch ihre Werke ein intimes persönliches Verhältnis haben. Sie alle versinnbildlichen den Traum als Leben.“'* Der ,, Traum als Leben“ enthält, in Novellenform verselbständigt, was Form und Inhalt seiner literaturkritischen Essays ausmacht: daß die literarischen Gestalten als Teil unseres Ich zu unserer Welt gehören, unsere Wirklichkeit mitverkörpern, unsere Sehnsüchte oder unsere Ängste. Wenn Vanderleyden seine Litta endlich in Oudenaarde erreicht zu haben glaubt — „Du bist zu spät... warst immer zu spät“