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— streckt ihn ein Schuß der Ordnungshüter nieder. Eine rätselhafte innere Biographie wird, zugleich diskret verborgen und verhüllt, auf diesem fiktiven Weg zu einer verstorbenen Frau ahnbar, ein mühsamer, sich verwirrender Weg, der sich mit den Gestalten der Literatur als Teilen des eigenen Ich verschränkt. Amery hat von Vanderleyden gesagt, daß er „weder Visionär noch Wahnsinniger“ sei, daß in der Novelle vielmehr das „Leben als Traum und der Traum als Leben“ „zur Kongruenz“ gelangten.’ Diese „Kongruenz“ dürfte es Amery ermöglich haben, von den Leiden zwar nicht loszukommen, aber sie wenigstens aus der Stummheit und Isolation herauszuführen und indirekt zur Sprache zu bringen. „Bücher gibt es, die unsere Jahre begleiten, sich verwandeln mit uns und uns niemals verlassen“, schreibt er 1947 in seinem Aufsatz zu Hanns Henny Jahnns ,,Perrudja“ unter dem Titel „Deutscher Existentialismus vor zwanzig Jahren‘, den er für die Zeitschrift „Die Fähre“ verfaßt, in einer Zeit, in der er „seine zweite Karriere“ begann, Erzählungen schrieb, an einem Roman arbeitete, dramatische Entwürfe skizzierte. Ganz ähnlich hatte es im Roman „Die Schiffbrüchigen“ (1934/34) von Eugen Althager, dem Alter ego seines Autors, geheißen: „Zahllose Bücher waren in seinen Händen, deren Inhalte er gelebt hatte“, Bücher, „die seinem Leben Vorzeichen gewesen waren“. V Nachdem Jean Amery den nationalsozialistischen Torturkerkern entkommen war, waren es wieder Bücher, in denen der passionierte Leser seine Lebensthemen und seinen Ausdruck für das Geschehene fand. Selbst hinter seiner Darstellung der Tortur, des „fürchterlichsten Ereignisses, „das ein Mensch in sich aufbewahren“ kann, sind die entsprechenden Stellen aus dem „Doktor Faustus“ von Thomas Mann mitzuhören. Jenes fensterlose Gewölbe, von dem „kein Schrei nach draußen“ drang, das ist im Faustus-Roman jene „Sicherheit der Hölle“: „daß sie vor der Sprache geborgen ist, daß sie eben nur ist“ — „wofür eben die Wörter ‚unterirdische Keller’, ‚dicke Mauern’, ‚Lautlosigkeit’, ‚Vergessenheit’, ‚Rettungslosigkeit’ die schwachen Symbole sind“. Was der Verstand nicht zu fassen vermag, weil die Vernunft oder welche Beschränktheit des Verstehens nun ihn daran hindert‘ das „wird getan, es geschieht ... „„,”” schreibt Thomas Mann. Und Jean Amery, dem es getan wurde, verändert das Präsens ins Präteritum und fügt den Dativ der Person dazu: „dort geschah es mir“. Amery wählte das Präteritum und er verband es mit dem Futurum: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“.” Er wußte, warum der Teufel in „Doktor Faustus“ sich für das Geschehene „aus Not mit dem Futurum behilft“.* VI Diese Art von „Kongruenz“ könnte zu einem genaueren Verständnis von Amerys Ressentiments gegenüber der vom Ich abstrahierenden Formanalyse führen. Seine „Kritiken eines Lesers“ sind nicht zu messen am avancierten Stand der ästhetischen Formanalyse bei Adorno, sondern viel eher an Paul Celans Poetik des Eingedenkens. Dessen vorsichtige Frage in der BüchnerPreis-Rede - „Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ‘20. Jänner’ eingeschrieben bleibt?“ — könnte man übertragen auf Amerys Essays über das Lesen von Büchern: das Neue daran, wie ernach 1945 Bücher gelesen hat, war „gerade dies“, wie hier „versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben.‘ Auf dem Weg der Erkundung der Bücher bewegt sich Amery der Spur seines Lebens entlang, dessen Schmerzpunkte er in der „halluzinativen Aufladung und Aufwertung“ des Gelesenen zu evozieren imstande ist. Lesen wird so zur Kunst des Verstehens, in der die eigene Geschichtlichkeit des Lesers mit der Bildersprache der Werke „in die Enge geführt“ (Paul Celan) wird: „schon verdunkelt sich die Szene“, heißt es in Amerys „Bergwanderung‘, in „rasendem Tempo kommen vom Zauberberg die Schlitten mit ihrer Kadaverlast herunter und sausen durch meinen Geisterwald [...] Der Tod ist da. Ich kann ihn nicht ausnehmen, vermag nur seine Allgegenwart zu verspüren im kranken Walde, der schon zum Todeswald wird.‘ Amery spricht von Krankheit und Tod im „Zauberberg“, was im Roman naheliegt, und er ist zugleich bei den ihm nahen Themen, dem nicht natürlichen Tod, der „vom armen Teufel Mensch“ als Aggression erlebt wird. Die Wanderung durch den Roman führt auf die Frage nach dem Lebensweg überhaupt und nach der „Haltung“, mit der Thomas Mann die Welt erträgt. „Ein von Verzweiflung, von erotischen Konflikten, vom ‘Abgrund’ bedrohtes Leben wird, ohne daß die genuine Tragik abgeleugnet oder eskamotiert würde, humoristisch abgefangen. Hierin ist der Dichter durchaus Realist [...]; denn er verfährt auf höchster Ebene, ähnlich wie wir alle in unserem Alltag‘. Wie „wir alle“, schreibt Amery, und schließt uns mit einer bestürzenden Höflichkeit in diesen Plural ein, nicht anders als am Schluß seines „Charles Bovary“, wo wir aufgefordert werden, den Weg — der Aufklärung — weiter zu gehen. Es ist die Stelle, an der in der Anklage des Charles Bovary, des Citoyen des 19. Jahrhunderts, die alttestamentarische Klage des Hiob hörbar wird und ein sehr subjektives, aus unserem Jahrhundert mitgesprochenes ,,J’accuse“ gegen die Verweisung ,,aus dem Reiche von Freiheit, Gleichheit, Briiderlichkeit“, gegen den „Paktbruch“, der auf Vergewaltigung und Mord hinauslief. „Ich klage ihn an“, erhebt sich die Stimme der literarischen Gestalt gegen den Autor der „Madame Bovary“, „und fordere alles zurück, was in meiner Reichweite lag, was mir zugesprochen war von Geist, Zeit, Geschichte und was er mir nicht schenkte, der Geizige, der Raffer und selbstherrliche Erschaffer von Wörtern und schönen Bildern [...] man verurteile den Mörder des Landarztes, den Vergewaltiger der Wirklichkeit, den Paktbriichigen.“** Bovary zieht diese Anklage zuriick, und es folgen die beriihrenden Sätze, in denen die literarische Gestalt in der „allereigensten Sache“ (Paul Celan) weiterspricht. „Ich ziehe meine Klage zurück. Ich sitze, der ewige Schatten, noch immer in der Laube. Warte nur wieder auf die Gnade des Todes, halte die Haarlocke in meinen Händen. Verstumme. Es ist mir recht, daß ich zu Boden falle. Hier liege ich: Continua viam viator ...“” Das ,,Hier liege ich“, die Absage an das lutherische „Hier stehe ich“, mit dem Heinrich Heine den Beginn der Aufklärung in Deutschland beginnen sah, ist nicht das letzte Wort des Romans. Der folgende Satz greift noch einmal das von Amery gern verwendete Bild der Wanderung auf, das aber hier, am Schluß des „Charles Bovary“, eine neue Deutung erhält. Es wird in der lateinischen Wendung „Continua viam viator“ vom Opfer an uns, die Leser weitergegeben. Wie Weggehfährten werden wir aufgefordert, den Weg — der Aufklärung — weiter fortzusetzen. Mehr kann man nicht dem Leser anvertrauen, verzweifelter kann man nicht an der Aufklärung festhalten. Anmerkungen 1 Jean Amery: Bergwanderung. Noch ein Wort zu Thomas Mann. In: Jean Amery: Werke. Hrsg. v. Irene Heidelberger-Leonard. Bd. 5. Hrsg. v. Hans Höller. Stuttgart: Klett-Cotta 2003, S. 25 67