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Inge Hansen-Schaberg Bericht über die Tagung „Als Kind verfolgt: Anne Frank und die anderen“ Die Arbeitsgruppe „Frauen im Exil“ in der Gesellschaft für Exilforschung e.V. veranstaltete ihre 13. internationale, interdisziplinäre Jahrestagung 7.-9.11. 2003 in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bibliothek in der Deutschen Bücherei Leipzig. Thema der Tagung waren die bislang eher unberücksichtigt gebliebenen Lebensgeschichten von jüdischen Kindern und Jugendlichen sowie von Kindern politisch Oppositioneller im Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus und im Exil und die Erfahrungen der als Kind erlebten Ausgrenzung, Verfolgung, Entwurzelung und Akkulturation. Vorgestellt wurden im ersten Themenblock aktuelle Forschungsprojekte, die sich mit der Rettung von Kindern durch die Kinderauswanderung und durch das Verstecken von Kindern, mit Traumatisierungen und individuellen Verarbeitungsformen der Überlebenden und mit pädagogisch-politischen und fürsorgerischen Initiativen im Exil befassen. Unter Einbeziehung der Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wurde versucht, Kindheit und das Ende der Kindheit im Sinne von Behütetsein zu reflektieren. Die in den Beiträgen und Diskussionen angesprochene Problemsicht läßt sich folgendermaßen skizzieren: Die Erfahrungen verfolgter Kinder und Jugendlichen umfassen die Bandbreite des Ausschlusses, des Verlassenseins, der Isolation, der Schuldgefühle und des Krankseins, aber auch intensive Gemeinschaftserlebnisse und die Entwicklung einer politischen Identität. Ob und wie den überlebenden Kindern die Integration und das Weiterleben gelang, muß in Abhängigkeit vom Leben vor der NS-Herrschaft, vom Alter, von den spezifischen Bedingungen der Exilsituation bzw. des Verstecks, den Möglichkeiten des Fußfassens und den Hilfen im Exil bzw. nach der Befreiung gesehen werden. Im zweiten Themenblock wurde die Rezeption dokumentarischer und literarischer Zeugnisse von Betroffenen kritisch untersucht und die Problematik der Mythologisierung und Kommerzialisierung erörtert, insbesondere in einer Podiumsdiskussion über „Das Tagebuch der Anne Frank“. Zudem wurde das Schreiben in der Verfolgungs- und Exilsituation in Form von Tagebüchern und Gedichten sowie das später autobiographisch orientierte reflektierende Aufarbeiten der Erinnerungen diskutiert. Dabei ging es um Texte und um den Film Diamanten im Schnee von Mira Reym Binford, um den Bilderzyklus von Clement Moreau Kinder auf der Flucht aus Hitlerdeutschland (1940) für ein Kinderbuchprojekt und um die Bilder von Monica Weiss mit Erinnerungsstücken, Fotos und Familiendokumenten ihrer Mutter. Im letzten Themenblock wurde der Frage nachgegangen, ob das Thema „Kindheit“ Ansatzpunkte für die Vermittlung von Nationalsozialismus und Judenverfolgung im schulischen Unterricht und in der Jugendarbeit bietet. Anhand von pädagogischen Projekten mit Kindern und Jugendlichen aus Graz, Wien und Wuppertal wurden die Transfermöglichkeiten der wissenschaftlichen Ergebnisse auf Modelle für die Bildungsarbeit über die NS-Zeit erörtert. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit individuellen Lebensgeschichten von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle, z.B. wurde berichtet, daß durch die persönlichen Gegenstände im Koffer der Adele Kurzweil oder durch die Tatsache, dieselbe Schule zu besuchen wie die damals vertriebenen jüdischen Schüler, Betroffenheit ausgelöst wurde. In allen drei Beispielen wurde eine Spurensuche mit lokalem oder regionalem Bezug initiiert. Während der Tagung fand am 7. November 2003 die Veranstaltung Wenn ich meine Geige nicht hätte mit dem Weidle Verlag, Bonn, statt, in der die deutsche Übersetzung der Biographie von Alma Rose vorgestellt wurde. Sie war die Leiterin des Frauenorchesters in Auschwitz; eine der Überlebenden von Auschwitz und Mitwirkende in diesem Orchester, Anita Lasker-Wallfisch, und Hanne Braun stellten das Buch vor. Außerdem wurde am 8. November 2003 in der Globus Galerie (im Audi-Zentrum, RichardLehmann-Straße 124) eine Verkaufsausstellung mit Werken der argentinischen Künstlerin Monica Weiss eröffnet, die bis zum 28. Februar 2004 besucht werden kann. Unter dem Titel „Transit. Spuren eines langen Weges“ zeigt sie Bilder, die sich auf sehr berührende Weise mit Vertreibung und Emigration beschäftigen. Neue Publikationen der AG „Frauen im Exil“ Simone Barck, Anneke de Rudder, Beate Schmeichel-Falkenberg (Hg.): Jahrhundertschicksale — Frauen im sowjetischen Exil. Berlin: Lukas Verlag: 2003. (Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Bd. 5). Anna-Christine Rhode-Jüchtern, Maria Kublitz-Kramer (Hg.): Echolos. Klangwelten verfolgter Musikerinnen in der NS-Zeit. Bielefeld: Aisthesis 2003. Ursula Hudson-Wiedenmann, Beate Schmeichel-Falkenberg (Hg.): Bildende Künstlerinnen und Kunsthistorikerinnen im Exil. Konstanz: Hartung-Gorre 2004 (im Druck). Call for Papers „Ethik der Erinnerung“ Zur Problematik der Vermittlung von Verfolgungs- und Exilerfahrungen Die Arbeitsgruppe „Frauen im Exil“ plant, ihre 14. interdisziplinäre internationale Tagung in Kooperation mit der Else Lasker-SchülerGesellschaft, Wuppertal, vom 5. bis 7. November 2004 in Wuppertal zum Thema „Ethik der Erinnerung. Zur Problematik der Vermittlung von Verfolgungs- und Exilerfahrungen“ durchzuführen. Bezugnehmend auf Avishai Margalits Abhandlung „Ethik der Erinnerung“ (2000) wird die Untersuchung und Erörterung des Problems im Zentrum stehen, wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene über die NS-Zeit und speziell über Verfolgungs- und Exilerfahrungen informiert und zur Auseinandersetzung motiviert werden können. Es sollen die Transfermöglichkeiten der bislang vorliegenden wissenschaftlichen Ergebnisse zum Thema Verfolgung und Exil auf Modelle für die Bildungsarbeit über die NSZeit überprüft und konkrete Projekte aus Deutschland und anderen Ländern vorgestellt werden. Eine besondere Rolle bei der Vermittlung kommt den Medien zu, wobei Kinder- und Jugendbücher, literarische und dokumentarische Texte sowie Film-, Bild- und Tondokumente ebenso untersucht werden sollen wie die Nutzung der Möglichkeiten des Internets. Gegenstand der Tagung sollen auch die Erörterung der Chancen und Probleme des Besuchs von Gedenk- und Bildungsstätten, Dokumentationszentren und Ausstellungen zur Aufarbeitung der NS-Zeit sowie die Auseinandersetzung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Durchführung von lokal- oder regionalbezogenen Untersuchungen und die Theaterarbeit sein. Das langfristige Ziel ist die Entwicklung eines didaktisch-methodischen Konzepts zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die eine mündige Erinnerungskultur evoziert und für die aktuelle Flüchtlingssituation sensibilisiert. Die AG „Frauen im Exil“ ist insbesondere daran interessiert, geschlechtsspezifische Aspekte der Erinnerung an Verfolgung und Exil, auch im Hinblick auf weibliche Zielgruppen, zu erarbeiten. Erwünscht sind Beiträge (Überlegungen, Projektvorstellungen und Arbeitsergebnisse) zu folgenden Bereichen: — Bestandsaufnahmen — Konkrete Beispiele und Projekte aus der Bildungsarbeit — Didaktisch-methodische Uberlegungen — Die Thematisierung von Lebensgeschichten Verfolgter als Ansatzpunkt fiir den schulischen Unterricht, fiir die Jugendarbeit und die berufliche und universitare Ausbildung — Kritische Auseinandersetzung mit den Präsentationsformen Vortragsangebote mit einem kurzen Exposé bitte bis zum 1. Februar 2004 an: Prof. Dr. Inge Hansen-Schaberg, Birkenweg 15, D-27356 Rotenburg. E-mail: hansen.schaberg@t-online.de 69