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Rezensionen Neue Studien zur jüdischen Literatur Der Anspruch eines „Handbuchs zur deutschjüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts“ ist ein überaus ehrgeiziger, und obwohl Vollständigkeit weder angestrebt noch erreicht wurde, kann doch gesagt werden, daß dem Werk eine systematische, gründliche und kompetente Darstellung des Themas gelungen ist. Der Herausgeber, der in Düsseldorf habilitierte Literaturwissenschaftler Daniel Hoffmann, stellt sich die Frage, inwieweit in die Auseinandersetzung der deutsch-jüdischen Autoren mit der literarischen Moderne „auch die Tradition jüdischen Denkens und seiner literarischen Formen involviert ist.“ Die meisten der beschriebenen Autoren waren Teil der jüdischen Renaissance der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, über die Hofmann mit Recht anmerkt: „Denn in ihrem Bestreben, eine gesonderte jüdische Lebenswelt zu schaffen, hat sie letztlich nicht zu jener Tradition zurückgefunden, die die jüdische Überlieferung weiterträgt, sondern sich statt dessen ein vorgeblich authentisches Judentum erfunden.“ Diese Prämisse gilt besonders für den heute ziemlich vergessenen Herausgeber der einst vielgelesenen Anthologien „Der Born Judas“ und „Die Sagen der Juden“, Micha Josef bin Gorion, der — so Daniel Hoffmann und Elijahu Tarantul — als Neuordner ,,die Schiitze der Vergangenheit aufgreift, um aus ihnen das neue, in seiner Substanz aber unveränderte alte Haus des Judentums errichten zu können.“ Im gleichen Beitrag interpretieren die Autoren den späteren Nobelpreisträgers Samuel Joseph Agnon, der von 1913 bis 1924 in Deutschland lebte, ebenfalls als poetischen „Arbeiter in den Steinbrüchen der Überliefunerg“. Der Aufsatz von Cornelia Blasberg über „Das Phänomen des George-Kreises“ widmet sich diesem in der bisherigen Literatur wenig beschriebenes kulturellen Netzwerk, das mehr Juden anzog, als es die neutrale Haltung Georges vermuten ließ. Eine noch weniger beachtete Gruppe beschreibt der Berliner Germanist Manfred Voigts, Autor einer umfangreichen Monographie über Oskar Goldberg, mit den Dichtern des Neuen Clubs: Jakob van Hoddis, Ernst Blass, Kurt Hiller, Erwin Loewenson, Erich Unger und Oskar Goldberg. Das Bildungsideal und die Literatur als Religionsersatz stellt Gertrude Cepl-Kaufmann in ihrer Analyse expressionistischer Autoren in den Mittelpunkt, indem sie schreibt: „An die Stelle der heiligen Schrift, der Thora, die zu erforschen, zu kommentieren und auszulegen als Vollzugsform des Glaubens galt, trat die Summe aller Schriften, die Literatur.“ Rolf Kauffeldt beschreibt am tragischen Beispiel Gustav Landauers den „Zusammenhang zwi70 schen deutsch-jüdischer Tradition und revolutionärem Geist“. Auch die Analysen der Werke von Stefan und Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger im Handbuch sind gelungen und geeignet, jüngere Autoren zu weiteren Forschungen anzuregen. Der Herausgeber Hoffmann selbst schreibt über die Dichter der Wiener Moderne: Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann, Leopold von Andrian und Arthur Schnitzler. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings im Gegensatz zu den anderen Analysen die Frage, ob eine Interpretation, die sich so weit vom Selbstverständnis des betont katholischen Autors Hofmannsthal, der sich selbst unter keinen Umständen als jüdischer oder jüdisch beeinflußter Autor sah, entfernt, sinnvoll ist. Der Autor des Kapitels über den Prager Kreis, der Heidelberger Theologe und Germanist Wolf-Daniel Hartwich, übersieht in seiner Analyse des Denkens von Max Brod, dessen Konzept des Nationalhumanismus er nur erwähnt, aber nicht erklärt, die politische Relevanz von Brods humanistischem Zionismus in Palästina/Israel, wo er mehr bedeutete als nur die beschriebene Alternative zum Nationalismus und Sozialismus. Im Kapitel Exil von Waltraud Strickhausen wird auch die Arbeit österreichischer Editoren der Werke von Berthold Viertel und Ernst Waldinger gewürdigt. In den beiden letzten Kapiteln widmen sich Holger Gehle, Mitarbeiter der Celan Forschungsstelle in Bonn, dem Schreiben deutsch-jüdischer Schriftsteller nach der Shoah (u.a. anderen Alfred Döblin, Nelly Sachs, Peter Weiss, Edgar Hilsenrath, Grete Weil, Wolfgang Hildesheimer und, dem Titel nicht ganz gerecht werdend, Anne Frank) und Armin A. Wallas dem Thema „Deutsch-jüdische Schriftsteller und die Literatur Israels“. Wallas analysiert die Werke von Else Lasker-Schüler, Moshe Ya’akov BenGavriél, Simon Kronberg, Josef Kastein, Max Zweig, Werner Kraft, Ludwig Strauß, Tuvia Rübner und einiger jüngerer deutsch-jüdischer Autoren in Israel. In einem eigenen Unterkapitel widmet er sich den Wechselwirkungen zwischen deutsch-jüdischer und hebräischer Literatur, für die aus Österreich Abraham Sonne (Abraham Ben-Jizchak) und Elazar Benyoetz besonders bedeutend wurden. Nach Wallas’ pötzlichem Tod im Mai 2003 ist dieser Aufsatz einer der letzten, den er veröffentlichen konnte, und wurde damit zu einem besonders tragischem Vermächtnis. Das Buch zeigt auf beeindruckende Weise Ausmaß, Niveau und Bandbreite der derzeitigen Forschung anhand der Analysen einer neuen Generation von Kuturwissenschaftlern. Es verdient zurecht die Bezeichnung Handbuch und wird im akademischen Studienbetrieb hoffentlich breite Wirkung entfalten. Der von Dieter Lamping, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mainz, herausgegebene deutsch- und englischsprachige Sammelband vereint sehr unterschiedliche Beiträge vor allem zur deutsch- und englischsprachigen jüdischen Literatur der Gegenwart. Mit den Aufsätzen von Alfred Hornung, Renate von Bardeleben, Mark H. Gelber und Beate Neumeier über Philip Roth, Cynthia Ozick, Erica Jong und Harold Pinter gelingt dem Band ein wichtiges Stück Literaturvermittung. Allerdings fehlen die Namen der bedeutendsten amerikanisch-jüdischen Autoren der Zeit nach 1945 wie Saul Bellow, Bernard Malamud oder Hermann Wouk völlig, und auch die Werke von Ozick oder Roth werden keineswegs vollständig dargestellt, so daß ein verzerrtes Bild entsteht, worauf zumindest im Vorwort hätte hverwiesen werden müssen. Alvin Rosenfeld analysiert Yitzhak Katzenelsons 1943/44 entstandenes Werk „The Song of the Murdered Jewish People“ als einen ,,seminal text“ der Literatur iiber und aus dem Holocaust, ohne auf die Kontroversen tiber die unterschiedlichen und zum Teil problematischen Ubersetzungen von Hermann Adler und Wolf Biermann einzugehen. Der Beitrag des Wuppertalers Literaturwissenschaftlers Riidiger Zymner tiber Elias Canetti stimmt nachdenklich. Die Ambivalenz von Canettis Beziehung zum Judentum wird bereits in dessen eingangs zitierter Selbstaussage deutlich, in der es heißt: „Die größte geistige Versuchung in meinem Leben, die einzige, gegen die ich schwer anzukämpfen habe, ist die: ganz Jude zu sein.“ Der Autor kann folgerichtig auch nur Canettis jüdische Sozialisation, aber nicht dessen jüdische Identität beschreiben. Auch Zymners zusammenfassende Feststellung, daß Canettis „Kampf gegen die Anerkennung des Todes [...] in einem jüdischen Diskurs, der Jüdische Geschichte und jüdische Kultur umgreift“, stattfindet, bedürfte noch einer näheren Erläuterung oder Beweisführung. Die zunehmende Qualität und Quantität der deutsch-jüdischen Literatur der Gegenwart — mit über 30 Autoren, deren Namen aufzuzählen hier nicht notwendig ist— waren der Anlaß für Sander L. Gilman und Hartmut Steinecke, im November 2000 in Berlin ein internationales Symposion zu organisieren, dessen Akten nun in Buchform vorliegen. Als das gemeinsame Merkmal dieser Autoren konstatieren die Herausgeber im Vorwort: „Sie handelten ganz offen von Juden, stellten jüdische Thmen in den Mittelpunkt ... in der Bundesrepublik und der DDR“. Stephan Braese, Autor der überaus lesenwerten Studie „Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur“, faßt in seinem Beitrag die „im westdeutschen Kulturbetrieb durchgeführte sprachpolitische Tilgung der Juden“ anhand einiger prägnanter Beispiele zusammen. Thomas Nolden, Autor des Buches „Junge jüdische Literatur“, vergleicht die jüdische Literatur in Deutschland und in Frankreich nach 1968. Rafael Newman bezieht sich in seinem Beitrag über die jüdische Kultur in der Schweiz auch auf den sonst heute nur mehr selten rezipierten Züricher, ursprünglich aus Berlin stam