OCR
»,Kaddisch fiir meinen Vater“ Mit Fritz Beers Sammlung von Essays, Erzählungen und Erinnerungen trat der neugegründete, nach dem legendären Prager Künstlercafe benannte Arco Verlag, Wuppertal, im Vorjahr ins Leben. Bücher des frühverstorbenen Walter Seidl, Eugen Hoeflichs (hg. von Armin A. Wallas), Georg Kreislers, Ludwig Winders folgten. Der Verlag spezialisiert sich auf „zu Unrecht vergessene Bücher“ böhmisch-deutscher bzw. tschechischer Provenienz und möchte 2004 sein Programm noch erheblich ausweiten. Bei einem Band, der Schriften aus mehreren Perioden eines langen Lebens und einer ausgedehnten Tätigkeit auf verschiedensten Gebieten sammelt, erliegt man leicht der Verführung, den Lebensgang des Verfassers als das Gemeinsame von all dem zu erörtern. Dieser Lebensgang wird von Christoph Haacker in seinem ausgezeichneten Nachwort ausführlich beschrieben. Fritz (Bedfich) Beer, Herr etlicher Pseudonyme, 1911 in Brünn geboren, besuchte in Brünn das Gymnasium und die Handelsakademie. Aus assimilierter, einigermaßen wohlhabender jüdischer Familie stammend, mußte er doch erfahren, daß die Eltern ihn nicht bewahren konnten vor Antisemitismus und nationalistischem Haß. Früh entwickelte sich seine Sensibilität für soziale Ungerechtigkeit. Aus dieser Verlassenheit heraus, in der er sich in aller Geborgenheit fand, schloß er sich den tschechischen Kommunisten an und war 1930-38 als Journalist verschiedener von der kommunistischen Partei beeinflußter Zeitungen und Zeitschriften tätig, u.a. bei der „Volksillustrierten“ und der von F.C. Weiskopf geleiteten „AIZ“. 1939 floh er über Polen nach England, verließ 1939 nach dem HitlerStalin-Pakt die KP und diente 1940-45 als Freiwilliger in der tschechoslowakischen Auslandsarmee. Die meisten seiner Verwandten fielen den NS-Verfolgungen zum Opfer. 1946-75 war Fritz Beer politischer Kommentator und Scriptwriter im deutschsprachigen Dienst der BBC. 1988-2001 war Fritz Beer Präsident des PE.N.-Zentrums deutschsprachiger Schriftsteller im Ausland. Beer lebt in London. Er hat einige Bücher geschrieben: die Erzählungen „Schwarze Koffer“ (1934) und „Das Haus an der Brücke“ (1949), das Sachbuch „Die Zukunft funktioniert noch nicht. Ein Porträt der Tschechoslowakei“ (1969) und die Autobiographie „Hast du auf Deutsche geschossen, Grandpa?“ (1992). Die Grundhaltung Beers, die auch den vorliegenden Band prägt, könnte man als zuversichtliche Skepsis bezeichnen. Ein Beispiel dafür bietet die Kurzgeschichte „Im Morgengrauen“ (1941), in der Beer Erlebnisse aus seinem Einsatz mit der tschechoslowakischen Auslandsarmee in Frankreich verarbeitet. Mit einem tschechischen Soldaten, Janda, der beim deutschen Einmarsch in Polen Zeuge der Brutalitäten der Wehrmacht geworden ist, soll er abgesprungene deutsche Piloten bergen. 72 Einer hängt mit seinem Fallschirm in einem Baum, und als Janda nun mit dem Messer in der Hand in den Baum steigt, scheint es sicher, daß er dem verletzten Deutschen den Rest geben wird. (Skeptische Erwartung.) Doch Janda bringt den Bewegungslosen mit äußerster Behutsamkeit zu Boden. (Das gibt wieder Zuversicht.) Als Janda aber dem Deutschen einen Notverband anlegen will, stellt sich heraus, daß der Flieger schon tot ist. In dem Buch ist ein zwar schmales, doch konsequent durchgeformtes erzählerisches Werk nossen nicht unbedingt, aber er hat Respekt vor ihnen. Sie stellen sich oft ziemlich ungeschickt an und sind dennoch immer wieder zu Erstaunlichem (im Schlimmen und im Guten) fähig. Im allgemeinen hält sich Beer an die selbstgewählte Devise: „Die großen Ideale, die geschichtliche Umwälzungen motivieren, Menschen... zu den größten Opfern beschwingen, sind immer nur die glorifizierte Versinnbildlichung kleiner Alltagssorgen.“ Dagegen ließe sich einiges einwenden, vor allem frägt sich, warum die hehren Allegorien („glorifizierten Versinnbildlichungen“) alltäglicher Sorgen geschichtlich so wirkmächtig werden können, wie Beer es unterstellt, wenn sie so leicht durchschaut werden können. Aber als Richtschnur eines nicht auf Ilusionierung zielenden Erzählens taugt die Devise. Der in der deutschen Öffentlichkeit bekannte Essayist und Redner Beer hat durchaus seine Ideale. Dem Buch ist als Motto ein Ignazio Silone-Zitat vorangestellt: „Sollen wir uns auch zur Wahrheit bekennen, wenn sie entmutigend ist? Sie ist immer weniger entmutigend als die ermutigendste Lüge.‘ Die Wahrheit ist hier als ein moralisches Ideal angesprochen, nicht als ein erkenntnistheoretisches Kriterium. Hier unterläuft es Beer mitunter, daß er im Vollgefühl seines Wahrheits-Idealismus den Gestus, die einfache Wahrheit zu sagen, rhetorisch überstrapaziert. So etwa in seiner Auseinandersetzung mit Chaim Nolls „Nachtgedanken über Deutschland“. Oft verbirgt sich ja hinter den sogenannten einfachen Wahrheiten eine durch die eigene Lebenserfahrung weniger gestützte als vielmehr übertünchte Überzeugung, die sich dadurch weiterem Nachdenken entzieht. Großartig ist übrigens Beers Erinnerung an Wilhelm Sternfeld, der durch seine rastlose Sammlertätigkeit im englischen Exil Grundlagen zur Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur geschaffen hat. Und das späte Totengebet für den 1942 von den Nationalsozialisten ermordeten Vater, in dem Beer von der Auflösung eines jahrzehntealten Zweifels an der Rolle seines Vaters in der Verwaltung des Ghettos Brünn erzählt, gibt dem Band zu Recht seinen Titel. Konstantin Kaiser Kaddisch für meinen Vater. Essays, Erzählungen, Erinnerungen. Mit einem Nachwort von Christoph Haacker. Wuppertal: Arco 2002. 390 S. Euro 28,-/Sfr 42,- (Bibliothek der böhmischen Länder. 1) Literatur zwischen Fiktion und Faktischem: Egon Erwin Kisch im mexikanischen Exil „Every reporter is a dramatist, creating a theatre of life“ (Jerry Rubin). Dieses an den Anfang der Analyse von Karin Ceballos Betancur gestellte Zitat erweist sich in hohem Maße für den Journalisten und Literaten Egon Erwin Kisch als gültig. Der Prager deutschsprachige „Kommunist, Jude, Exilant“ Kisch, der sich im Spannungsfeld zwischen Literatur und Journalismus bewegte, taucht in biographischen Skizzen, Autobiographien, Kaffeehausstimmungsbildern als „Vater der Reportage“, als „rasender Reporter“ immer wieder auf; in die Literaturwissenschaft haben seine Texte bislang kaum Eingang gefunden. Die Intention der Autorin war nun, mit Kischs Texten der Germanistik ein eindrucksvolles, komplexes Beispiel für die Reportage als Literaturform zu bieten und eine intensivere Rezeption einer Gattung anzuregen. Die Tatsache, dass sich die Reportage als Gattung im Grenzbereich zwischen Fakten und Fiktion bewegt und weitaus mehr den Kriterien der Funktionalität als ästhetischen Ansprüchen unterliegt, wirkt sich auf die germanistische Rezeption aus. Doch aus den Reihen der Schriftsteller und Literaturkritiker kommen Stimmen, die einer Renaissance der Reportage im Zusammenhang mit der „Krise zeitgenössischer (deutschsprachiger) Literatur“ das Wort reden. So konstatiert der deutsche Schriftsteller Prager Herkunft, Maxim Biller, dass die naheliegende Verbindung von Journalismus und Literatur heute verpönt sei; Realismus sei allerdings für die Literatur lebensnotwenig. Er plädiert daher für einen erweiterten Reportagebegriff, um die Literatur aus ihrer Abgehobenheit zurückzuholen. Kisch selbst begründete die Wahl der Gattung damit, dass das tausendfach erlebte Grauen, welches die grausamste Fiktionen übertreffe, dem Roman die Daseinsberechtigung entzogen habe, während die Reportage die Realität zum Gegenstand mache. Karin Ceballos Betancur zeigt, wie Kisch im Exil die Reportage mehr als Waffe denn als Kunstform einzusetzen begann, und gleichzeitig, bedingt durch das Fehlen von Informationen, weitaus mehr fiktionale Literatur produzierte, die mit künstlerischen Mitteln Wahrheitsgehalt vorgab. Dass die Strategie, sich des Mythos der Faktenwirklichkeit für politische Zwecke zu bedienen, nicht unproblematisch ist, betont die Autorin. In ihrer Publikation bietet sie zunächst eine zusammenfassende Darstellung von Formen und Funktionen der Reportage. Die Lebens-, Publikations- und Rezeptionsbedingungen im mexikanischen Exil (19401946) und die Textproduktion von Kisch stehen im Zentrum der Analyse. Als sehr liberales Aufnahmeland bot Mexiko gerade kommunistischen Exilanten Schutz sowie Möglichkeiten zur politischen Arbeit. Ceballos Betancur zeichnet nach, welche